Anfang Mai ist 7-Seen-Wanderungszeit. 21 verschiedene Strecken standen vom 3. bis 5. Mai zur Auswahl. Nach 35 Kilometern im letzten Jahr hat sich Marko Hofmann dieses Jahr direkt an die 55 Kilometer herangewagt - ohne gezielte Vorbereitung. Eine Wanderung zwischen Freude, Stolz, Pein, Selbsthass und Hüftschmerzen. Aber auch eine Wanderung, die irgendwie ans Ziel führte. "Nacht-Extrem" nannte sich diese Tour.

“Ich könnte jetzt so schön in meinem Bett liegen und schlafen”. Ich bin bei Kilometer 36, als mir dieser Gedanke das erste Mal durch den Kopf schießt. An der Freiwilligen Feuerwehr in Böhlen werden Kaffee, Tee und Streuselkuchen von fünf der 250 ehrenamtlichen Helfer der 7-Seen-Wanderung gereicht. Es ist 2:22 Uhr und die schlimmste Phase der 55 Kilometer hat begonnen. Bis hierhin oder zumindest bis Kilometer 31 in Gaschwitz war noch alles easy.

Das Wetter war deutlich besser als erwartet und so strömten auch bei der zehnten 7-Seen-Wanderung tausende gutgelaunte Wanderer, diesmal nach den Eröffnungsworten von Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich, die Raschwitzer Straße in Markkleeberg entlang. Diesmal gab es keinen Unfall zu erleben und so war meine dreiköpfige Reisegruppe bis zur ersten Rast an der Bistumshöhe mittendrin in einem Pulk aus Wanderern, die sich wahlweise über das Wochenende (“Musste morgen arbeedn?”), die Leipziger Gastronomie (“Wo kann man d’n sonntachs scheen brunchen gehen?) oder den letzten Gartenverein (“Da hätt’sch am liebsten die Laube ganz abgerissen”) unterhielten. Was waren wir voller Elan.
Auch noch nachdem wir den Zwenkauer See entlang bis zum Trianon gelaufen waren. Selbst die Unkenntnis des hiesigen Heimatvereins und des Königlich Sächsischen Chevauleger-Regiment “Prinz Clemens” e.V. Pegau waren schnell vergessen. Wie üblich wollte man Wegzoll für den sächsischen König Friedrich August I. “Ist das nicht der, nach dem der Augustusplatz benannt wurde?”, frage ich. “Nein, das war natürlich August der Starke”, wirft man mir entgegen. Am liebsten hätte ich meinen Euro wieder aus der Box geholt … Aber kaum etwas kann nachts 23 Uhr nebensächlicher sein als eine Geschichtsdebatte – zumal nach 21 Kilometern.

In Gaschwitz dann die erste Trennung: Einem Teammitglied bekommt wahrscheinlich der Temperaturwechsel im familiären Jugendclub nicht. Der Kreislauf streikt. Mit dem Taxi geht’s zurück nach Markkleeberg. An seinem Anteil an den 60 Kilo Spirelli, die hier insgesamt heute gekocht werden, wird es kaum gelegen haben. Die Verpflegung ist auch hier einwandfrei.
Seinen Platz vergeben wir an einen anderen Freund, dessen Wandergruppe geschlossen in Gaschwitz den Rückzug antrat.

Nun also nach Böhlen, entlang des Fuß-/Radwegs direkt am Wasser, entlang der Straße von Großdeuben nach Böhlen. Alles ist stockfinster und die Dunkelheit legt sich aufs Gemüt. In der Nacht hätte man doch eigentlich deutlich Besseres zu tun, als bei 7,8 Grad Celsius den alles andere als spektakulären Fuß-/Radweg entlang der Landstraße zu laufen. Selbst das Pausieren macht nun keinen Spaß mehr. Wer sitzt, kühlt aus. Aber: Aufgeben ist nicht und wenn zwei von drei Wandersleuten noch wollen, lässt sich auch der dritte überzeugen.
Wenigstens muntern uns diverse Durchhalteparolen für andere Wandersmänner und -frauen in Böhlen auf. “Julia, Jörg, Phillip & Maik: Ihr schafft das. Wir wünschen euch viel Kraft. Die drei D’s” steht mit Kreide geschrieben mitten auf der Böhlener Hauptstraße. Und einen Meter später der Zusatz: “PS: Der Schlüssel steckt von innen ;)”. Ja, da können wir auch noch mal lachen, bevor wir in das unbekannte Gaulis einbiegen.

Am Fuß des Kraftwerks Böhlen-Lippendorf gelegen, hat der Ort doch mehr zu bieten, als man meinen mag. Eine Mühle beispielsweise, die in der langsam einsetzenden Morgendämmerung samt Nebel nur schwer auszumachen ist. Eigentlich schade. Andererseits bedeutet die Mühle auch, dass nur noch ein Kilometer bis zur nächsten Rast fehlt. An der Landestalsperrenverwaltung und an ein paar Schrebergärten vorbei, erreichen wir das Sportlerheim Rötha und schauen in müde Gesichter. Zehn andere, die sich der Herausforderung gestellt haben, hatten sich schon am kleinen Buffet gelabt und jeder hatte seine Füße hochgelegt, manch einer probierte es mit Power-Napping.
Früh 4:45 Uhr ist die Welt in Rötha nicht mehr für jeden in Ordnung. Immerhin: Verlaufen kann man sich auch hier nicht. Exzellent, wie mit kleinen weißen Pfeilen auf dem Gehweg jede Richtungsänderung markiert ist. Einige Röthaer zeigen zudem, dass die 7-Seen-Wanderung keine Veranstaltung im luftleeren Raum ist. Plakate wünschen allen Wanderern noch viel Kraft und Durchhaltevermögen. Eine Familie hat sogar eine kleine Futterkrippe für Wanderer vor ihr Haus gestellt. Ein paar Bonbons in Ehren… Nur noch 14 Kilometer. Genau das ist es, was uns antreibt. Zudem geht die Sonne wieder auf, die Gespräche in der dreiköpfigen Wandergruppe werden wieder umfangreicher.

Schon immer haben wir davon geträumt, einmal morgens 05:30 Uhr entlang der B95 auf dem Fußweg zu laufen. Heute wird der Traum Wirklichkeit. Der Ausspruch: “Du bist dümmer als 5 Meter Feldweg”, lässt sich gut den hiesigen Gegebenheiten anpassen. Am Stadion Espenhain sind wir die Letzten an der Raststation und bekommen noch sechs Bananen als Proviant mit. Ja, selbst den restlichen Streuselkuchen will man uns geben. Wir müssen ziemlich schlecht aussehen.
Aber 9,3 Kilometer vor dem Ziel ist zuviel Proviant nicht ratsam. Das nächste Pärchen steigt hier aus. Der umtriebige Sportplatzverantwortliche hat bereits das Taxi bestellt.

Für die nächsten hundert Meter ist ein Fahrradfahrer unser Begleiter, der immer zwischen den einzelnen Stationen pendelt, um die baldige “Kundschaft” durchzustellen. “Keine Sorgen, wir warten auf euch”, wirft er uns schließlich zu. Sind wir wirklich so langsam? 5 Kilometer pro Stunde sind doch nicht zu verachten. Gemessen daran, dass wir nun schon 12 Stunden fast nur laufen und seit 24 Stunden wach sind.
Das dicke Ende kommt aber noch: Die Halde Trages, mit 228 Metern der höchste Punkt der gesamten Strecke. Gelegentliches Sitzen scheint ob der mittlerweile erreichten 48 Kilometer das richtige Plaisir. Doch die Auszeiten machen am Ende alles viel schlimmer. Es werden immer mehr Meter, ehe sich die Hüfte anschließend wieder “einrenkt”. Auch die Gespräche werden wieder überschaubarer, die Müdigkeit kommt langsam zurück. Der Ausblick gen Thierbach von der Halde lässt nur kurz Freude aufkommen. An der letzten Station gibt’s noch mal Getränke. Das Lagerfeuer ist fast schon ausgeglüht. Immerhin können wir das Ziel schon sehen, auch wenn es sich anfühlt, als ob es jemand immer wieder vor uns wegschiebt.

Wer hatte eigentlich die Idee, gleich auf 55 Kilometer zu gehen? Mist, das war ich. Hoffentlich erinnern sich die anderen beiden nicht gleich daran.

Dass wir nach dem Abstieg erstmal noch entlang der Halde von Thierbach weglaufen, verbessert die Stimmung nicht. Auch Thierbach kann lang sein – nach 53 Kilometern. Auf den letzten Kilometern kommt noch mal der Kopf dazu. Weiterlaufen scheint plötzlich so qualvoll und sinnlos zu sein. Warum kann ich mich jetzt nicht einfach auf die Parkbank setzen und den Vögeln, die die gesamte Nacht durchgezwitschert haben, entspannt zuhören, im Idealfall Fachgespräche über Sperber und Spatz führen? Ach ja, so kurz vor dem Ende wäre es doch dämlich, aufzuhören und: Im Ziel gibt’s Puddingsuppe.

8:15 Uhr, 14 Stunden und 15 Minuten nach dem Start, 54,1 Kilometer und zahlreiche neu entdeckte Muskeln und Sehnen später ist es allerdings endlich geschafft. Die Puddingsuppe steht am Thierbacher Sportplatz auf dem Tisch.

Früh um 3 Uhr seien die Ersten schon hier gewesen. “Das sind Verrückte”, sagt uns die Frau, die die Urkunden vergibt. Wie Recht sie doch hat. Laute Stille am Tisch, jeder zählt seine Problemzonen, deren Zahl ins Unmessbare gestiegen scheint, bis fünf Minuten später der erste sagt: “War doch eigentlich gar nicht so schlimm…”

www.7seen-wanderung.de

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