Seit zwei Jahren ringt die Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" um eine gemeinsame Position. Vorsitzende ist die Leipziger Bundestagsabgeordnete Daniela Kolbe (SPD). Und natürlich treffen in der Kommission alle Positionen aufeinander, die man im deutschen Parteienspektrum findet. Und es gibt erstaunliche Begegnungen, wo politische Gegner auf einmal zu den selben Einsichten kommen. Ortstermin in der Leipziger Volkshochschule am Dienstag, 30. Oktober. Meinhard Miegel ist zu Gast.

Daniela Kolbe hat ihn in ihre Leipziger Veranstaltungsreihe “Wie wollen wir leben?” eingeladen. Der Klassenraum ist gut gefüllt. Miegel ist auch jungen Leipzigern ein Begriff, weniger als Vorstandsvorsitzender der “Denkwerk Zukunft – Stiftung kulturelle Erneuerung”, deren Anliegen “eine Erneuerung der westlichen Kultur” ist, “um diese wieder zukunfts- und verallgemeinerungsfähig zu machen.” Denn zukunftsfähig ist die westliche Kultur so nicht mehr. Sie steckt in der tiefsten Krise ihrer Geschichte und steht vor Herausforderungen, die so noch keine Zivilisation in der menschlichen Geschichte lösen musste – sie steckt tief in einer Schuldenkrise, bekommt zunehmend ein Ressourcenproblem, bekommt es mit einem selbstverursachten drastischen Klimawandel zu tun und hat auch noch die demografischen Veränderungen zu meistern, die sie selbst verursacht hat – ohne Lösungen dafür entwickelt zu haben.

Miegel ist überzeugtes CDU-Mitglied und war in den 1970er Jahren Mitarbeiter von Kurt Biedenkopf, als der Generalsekretär der CDU war. Manches, was Miegel seitdem umtreibt, findet man bis heute auch bei Biedenkopf. Sie gehören zu den kritischen Denkern in der CDU. Und Miegels Bücher – wie zuletzt etwa “Exit. Wohlstand ohne Wachstum”, “Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft?” oder “Die deformierte Gesellschaft: Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen” – sorgen immer wieder für Diskussionen. Und überraschen die scheinbaren politischen Gegner.

So auch an diesem Abend, an dem es beinah zu einem kleinen Streit über Max Weber kommt.

Keinen Streit gibt es über Miegels Einschätzung, dass die Goldenen Jahre der westlichen Kultur vorbei sind. 200 Jahre unaufhörlichen Wachstums liegen hinter der westlich geprägten Kultur. 200 Jahre des wachsenden Wohlstands. Eines Wohlstands, den sich die Europäer auch auf Kosten der anderen Kontinente geschaffen haben, als ihre eigenen Ressourcen längst erschöpft waren. Eines Wohlstands, den die Politik und die maßgeblichen Theoretiker in den letzten Jahren direkt mit der Vokabel Wachstum verschmolzen haben. Fast täglich hört man irgendwo die Beschwörung, es gäbe keinen Wohlstand ohne Wachstum, die deutsche Wirtschaft müsse wachsen, sonst sei der Wohlstand nicht zu halten.Doch selbst die simpelsten Statistiken zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) zeigen, dass der Zuwachs seit den 1950er Jahren permanent zurückging. Die Zuwachsraten sanken von 6 auf 3 Prozent, liegen heute irgendwo bei 1 Prozent. Die Null ist absehbar. Und seit den 1970er Jahren ist das Wachstum in der Bundesrepublik auf Pump erkauft – mit einem wachsenden Schuldenberg.

Ein “immer so weiter” funktioniert nicht mehr. Auch für Miegel ist es Aufgabe der Zeit, den Wohlstandsbegriff endlich wieder vom permanenten Wachstum abzukoppeln. Seit 2011 arbeitet auch er in der Enquete-Kommission mit, weiß also, wie schwierig es dort sein wird, einen Konsens zu finden. Denn diejenigen, die gern bei der alten, auf Ausbeutung der Welt beruhenden Formel des Wachstums bleiben wollen, sind dort noch in einer spürbaren Mehrheit.

Und nicht nur dort. Wenn eine Gesellschaft über Jahrzehnte mit der Vision aufwächst, Wirtschaftswachstum könne nicht nur Wohlstand schaffen, sondern auch alle sozialen Konflikte kitten, dann ist das längst eine Gewohnheits- und Mentalitätsfrage. “Der Fortschritt der Menschheit ist unendlich langsam”, sagt Miegel. Auch im Widerspruch zur gängigen These, der Fortschritt habe längst ein atemberaubendes Tempo vorgelegt. Aber immer neue technische Spielereien sind noch kein Fortschritt. Im Gegenteil, sie erhöhen nur das Tempo des Ressourcenverbrauchs.

Für Miegel waren die Grenzen dieses Wachstums in der Bundesrepublik spätestens ab 1978 erreicht. “Ab da wurde das Wachstum mit Schulden finanziert”, sagt er. 1972 hatte der “Club of Rome” seinen Bericht “Die Grenzen des Wachstums” veröffentlicht. So lange ist Miegel mit seiner Botschaft unterwegs und lässt sich an diesem Abend auch nicht von etwas schärferer Kritik aus dem Konzept bringen.

Entmutigen auch nicht, auch wenn er sagt: “Ich fürchte, diese Gesellschaft ist gar nicht darauf vorbereitet, den Wissens- und Könnensstand nachhaltig zu heben.” Denn ein Umdenken hin zu einem neuen Wohlstandsdenken braucht auch mehr Wissen. Und nicht nur technisches, wie Miegel weiß: Sichtweisen und Verhaltensnormen müssen sich ändern. Und dazu hat die gegenwärtige Gesellschaft nicht viel Zeit. Aber wie soll das gehen?Immerhin verbinden die meisten Deutschen Wohlstand mit materiellen Dingen, sind als Mensch – so Miegel – zu einem Torso geworden, sind nur noch Produzenten und Konsumenten.

Enttäuscht zeigt er sich trotzdem nicht. Denn selbst an diesem Abend melden sich etliche aus dem Publikum, die über andere Wege zu einer neuen Wohlstandsdefinition nachdenken. Einer Definition, in die auch Dinge wie Gesundheit, freie Zeit, soziale Kontakte, kultureller Reichtum gehören.

Gerade junge Leute hinterfragen die alten Fiktionen von Wachstum und Wohlstand. So nebenbei erwähnt Miegel auch, dass Jugendarmut derzeit ein wesentlich brennenderes Thema ist als Altersarmut. Denn die Jungen haben schon längst nicht mehr Anteil an den alten Reichtumsverteilungen. Nicht nur in Südeuropa, wo die Schuldenproblematik gerade die Gesellschaften zum Kochen bringt.

Sichtweisen müssen sich ändern und Verhaltensnormen. Was nichts Neues ist in der menschlichen Geschichte. Das ist immer wieder passiert. Ganze Gesellschaften müssen sich an sich verändernde Bedingungen anpassen. “Wir sind auch jetzt wieder mitten in so einem Prozess”, sagt Miegel.

Sein Fazit für das, was die westliche Gesellschaft gerade erlebt: “Wir waren in einer extrem privilegierten Situation und diese Situation geht zu Ende.”

Er ist zuversichtlich, dass die Enquete-Kommission am Ende zumindest eine neue Wohlstandsdefinition zustande bringt, die das Wohlergehen der Gesellschaft nicht mehr nur am BIP misst, sondern auch deutlich stärker immaterielle Maßstäbe aufnimmt. Was zwar noch nicht das deutsche Diskussionsdilemma löst, über Lösungen immer wieder zu diskutieren – am Ende aber doch nichts zu tun. Doch er ist zuversichtlich, dass die Erkenntnis, dass es so nicht weitergeht, so langsam um sich greift. “Für mich ist kein Anlass zur Resignation”, sagt Miegel.

Zwei Veranstaltungen in der Reihe “Wie wollen wir leben? Wachstum. Wohlstand. Lebensqualität.” folgen noch. Am 6. November, 19 Uhr ist Edelgard Bulmahn zu Gast bei Daniela Kolbe in der Volkshochschule Leipzig (Löhrstraße 3-7). Und am 14. November am gleichen Ort Prof. Ernst Ulrich von Weizsäcker.

www.denkwerkzukunft.de

www.daniela-kolbe.de

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