Ein sonniger 16. Mai. Ein Rascheln und Wispern und Gespanntsein im Kabaretttheater Sanftwut. Heut ist der Saal wieder voller Gäste. Die Lene-Voigt-Gesellschaft ist wieder im Haus. So jung, wie man sie lange nicht erlebt hat. Denn an diesem Mittwochnachmittag findet der 12. Wettbewerb um den Nachwuchspreis der Gesellschaft statt, das Gaggaudebbchen. Die Zeiten, dass dieser Wettbewerb für Schüler bis 15 Jahre im Lene-Voigt-Kabinett des Ratskellers stattfinden konnte, sind vorbei.

19 junge Kandidaten haben sich diesmal angemeldet. 18 sind dann tatsächlich da. Auch das ist ein Rekord. “Wenn’s mehr werden, müssen wir wohl einen Vorausscheid machen”, sagt Uwe Rohland, der auch diesmal den Wettbewerb moderiert, obwohl ihm der quirlige Nachwuchs sichtlich Lampenfieber macht. Denn was fragt man die Biester, wenn sie auf die Bühne gesprungen kommen? Nach den Schulnoten besser nicht. Die sind im Jahr 2012 so geheim wie die Gehälter von kommunalen Managern. Und es gehört schon eine gewisse Chuzpe dazu, Lene Voigt’s “Dreestliche Aussicht” zu rezitieren, wie es Stella George tat. Darin geht’s um all die Schüler, die eben keine Klassenprimusse sind – im Leben aber Erfolg haben. Während “de Musterschüler selten / später ooch als Erschte gelten”.

Also gar nicht erst fragen. Es ist egal. Beim Lene-Voigt-Wettbewerb um das Gaggaudebbchen sowieso. Denn wer sich hier traut, der lässt sich im Leben nicht die Butter vom Brot nehmen. Und wenn der Moderator frech nach Hobbys fragt, erfährt er eben, dass die ganze Rasselbande in der Schulpause nichts als Handstand macht. Das hat er dann davon.
In den letzten Jahren hat sich der Wettbewerb zu einem kleinen Duell zwischen Delitzsch und der Leipziger Lene-Voigt-Schule entwickelt. Doch in diesem Jahr reisten die Schüler der Delitzscher Artur-Becker-Mittelschule nicht an – sie hatten Wandertag. Da ging nichts zu drehen. Manchmal können auch Schulleitungen unerbittlich sein.

Hätte also zu einem echten Heimspiel der Lene-Voigt-Schule werden können, wo die sächsische Mundart und insbesondere die Interpretation von Lene-Voigt-Gedichten seit Jahren zum Standard und zum Stolz der Schule gehören. Doch mitten in der Stadt erwächst Konkurrenz. In der Bornaischen Straße 104. Hier hat das Neue Nikolaigymnasium seit letztem Jahr seine Außenstelle, weil in Leipzig die Anmeldezahlen fürs Gymnasium steigen und dringend neue Schulen eröffnet werden müssen.

Das Gebäude des ehemaligen Mommsen-Gymnasiums eignet sich dazu natürlich ideal. Ab Herbst 2012 wird es wieder ein eigenständiges Gymnasium. Mal sehen, wie man sich dann nennen wird. Wieder nach Mommsen? – Schon im ersten Schuljahr entstand um Steffi Brückner ein ähnliches Projekt, wie es Sibylle Dobroschke an der Lene-Voigt-Schule mit Leben erfüllt. Was da schon mit den Pfiffikussen der 5. Klasse auf die Beine gestellt werden kann, war am Mittwochnachmittag zu erleben. Gleich sieben Mädchen wagten sich mit Texten wie “Unverwiestlich”, “De Gatze” oder gar dem anspruchsvollen “Zauwerlährling” auf die Bühne. Selbst die Klassenpalme musste ran und erlebte zwei besondere Auftritte als lebensmüde “Gogosbalme”.
Aimee Joy und Thyra heißen einige der jungen Damen, die schon mal klar machten, dass mit ihnen zu rechnen ist – wenn sie der Lene treu bleiben. Nur Uwe Rohland hatte zu tun. Bei solchen Vornamen muss man schon mal nachfragen, wie sie richtig ausgesprochen werden. Aber die jungen Stars aus der Lene-Voigt-Schule machten es ihm nicht leichter: Mariama oder gar Lucie. Mit Ronja kam er dann schon klar. Da war die “Räubertochter” aus dem Kinderbuch sofort präsent. Ronja schleppte übrigens einen gewaltigen Nagel mit auf die Bühne. “Hab ich mir beim Hausmeister ausgeborgt.” Sie illustrierte auf ihre Weise das Lene-Voigt-Gedicht “Dr vergannte Schirurch”.

Auch Helden vergangener Gaggaudebbchen traten wieder an. Karlheinz Kühn etwa, Gewinner im letzten Jahr, als er mit Smoking und “An Minnan” die wirklich enge Konkurrenz für sich gewann. Denn da war ja schon zu sehen, dass diese jungen Leute kein Lampenfieber kennen, die Texte beherrschen und sie mit Feuer vortragen. Komplettiert fast immer durch freche Kostüme.

Diesmal gab’s zwei Katzen zu sehen und Thyra Sevon als “Zauwerlährling”. Als hätte man das Kostüm schon irgendwo mal gesehen …
Karlheinz Kühn kam diesmal nicht im Smoking, schleppte dafür eine Riesenpuppe und eine ganz kleine auf die Bühne, denn diesmal erzählte er die Geschichte von “David und Goliath”. Mit der durchaus wichtigen Botschaft: Verachtet mir die “Gleenen” nicht.

Dass es diesmal kein Junge war, der das Kakaotöpfchen gewann, verriet Uwe Rohland dann schon ein bisschen zu früh. Natürlich wegen des Lampenfiebers. Gewonnen hat eine junge Dame, die schon im Vorjahr unter den drei Besten war: Sarah Fechner aus der Lene-Voigt-Schule, die auch wieder mit ihrem Lieblingstitel “Dr Fischer” antrat – diesmal nicht im schwarzen Cocktail-Kleid, sondern jugendlich salopp. Aber die rosa Federboa durfte wieder mit auf die Bühne. Und der Fischer hatte natürlich keine Chance mehr gegen die Anglerin.

Ob das Urteil der Jury tatsächlich so eindeutig war? Wahrscheinlich nicht. Denn das Vortragsniveau war – den engagierten Lehrerinnen sei Dank – hoch. Diese jungen Leute haben ihren Spaß an Lene-Voigt-Texten. Auch wenn man deutlich heraushört: Der Leipziger Sprachprofessor Beat Siebenhaar hat wohl recht. Das sächsische Idiom ist wohl ausgestorben. Das Sächsische geht den jungen Akteuren noch nicht glatt und rund von der Zunge, es ist nicht die Sprache, mit der sie im Elternhaus und auf der Straße groß werden. Für viele ist die Arbeit mit Lene-Voigt-Texten wohl wirklich die erste Begegnung mit dem Sächsischen, das nur dann schrecklich klingt, wenn es die Schauspieler nicht können oder wenn Politiker es sprechen.

Und gerade die kleinen, scheinbar so leichten Gedichte von Lene Voigt lassen ahnen, wieviel mehr in diesem Idiom steckt an Hintersinn und Lebenswitz. Und natürlich steckt auch die ganze sächsische Verschlagenheit drin, das Naive und Gemeine, was erst die richtige Mischung ausmacht. Und was sich erst erschließt, wenn man nicht nur die Worte auswendig lernt. Da die jungen Talente dieses ganz speziellen Wettbewerbs sich die Texte spielerisch erarbeiten, können sie sich viel davon erschließen. Man merkt es, wenn die Pointen tatsächlich an der richtigen Stelle kommen. Der volle Saal im Theater “Sanftwut” hatte sein Vergnügen. Selbst da, wo die Pointen völlig danebengingen, weil man für einige der kleinen Voigtschen Gemeinheiten eben doch schon was vom Leben erfahren haben muss.

Und die erstmals startenden Vortragskünstler aus der Nikolai-Außenstelle nutzten die Gelegenheit, gleich mal Werbung zu machen für ihr aktuelles Projekt: Sie haben das Musical “Cats” einstudiert, und das ist am 21. Mai gleich zwei Mal in der Bornaischen Straße 104 zu erleben – einmal um 16 und einmal um 18.30 Uhr.

Und die Lene-Voigt-Gesellschaft selbst hat in diesem Jahr auch noch einiges vor. Am 16. Juli lädt sie aus Anlass des 50. Todestages von Lene Voigt zu einem Kolloquium ein. Es findet von 13 bis 18 Uhr in den Räumen der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig im Poetenweg statt. Und auch Prof. Beat Siebenhaar ist dabei. Er stellt seine Überlegungen zur Dialektverschriftlichung bei Lene Voigt zur Diskussion.

Und am 23. Oktober ist der nächste Wettbewerb um den großen Preis der Gesellschaft, die Gaffeeganne. Dafür kann sich, wer sich’s zutraut, noch anmelden.

www.lene-voigt-gesellschaft.de

www.ehemaliges-mommsen-gymnasium.de

Gaggaudebbchen 2011: Die Jury ist beinah verzweifelt

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