Vom 8. bis zum 15. Oktober öffnet das Dokumentarfilmfestival DOK Leipzig seine Türen. Gezeigt werden internationale Kurz- und Langfilme. In diesem Jahr liegt neben vielen anderen Themen ein besonderer Fokus auf dem Krieg in der Ukraine. Historisch wird ein Blick auf den Kalten Krieg geworfen und aktuelle Bewegungen in mittel- und osteuropäischen Ländern porträtiert.
Die Themen der Festivalfilme sind vielseitig, unter anderem Homosexualität und Sexarbeit, eine palästinensische Familiengeschichte aus Tiberias, der Genozid in Ruanda oder Widerstandsbewegungen überall auf der Welt. Zwei LZ-Redakteure haben sich vier Festivalfilme angeschaut.
Eine intime Familiengeschichte: „Bye Bye Tiberia“
Niemand konnte wissen, wie aktuell das Thema auch für die Menschen hier in Deutschland plötzlich wird: Tiberias ist eine Stadt im Staat Israel am Westufer des Sees Genezareth. 1948, so beschreibt es Lina Soualem, kamen die Engländer zu ihrer Großmutter, brachten sie zu ihrer Familie und sagten, sie müssten jetzt gehen. Die palästinensische Familie lebt nun verstreut und vertrieben. Lina Soualem, die in Frankreich aufgewachsen ist, reist zurück in ihrem arabischen Heimatort Deir Hanna, der in Israel liegt.
Man spricht nicht über die Vergangenheit: Dies ist das Credo, das über Generationen unter den Frauen der Familie weitergegeben wurde. Wie haben sie überlebt? Haben sie eine Heimat? Was bedeutet ihnen Familie? Intim porträtiert Lina Soualem ihre Vorfahrinnen, unter anderem ihre Mutter, die bekannte Schauspielerin und Regisseurin Hiam Abbass.
Zu Beginn sei es nicht einfach gewesen, ihre Familie zu filmen, sagt Lina Soualem im Publikumsgespräch. Ihre Mutter hatte es schwer, sich zu öffnen und ihre Familie musste sich an die Kamera gewöhnen. Das Ergebnis ist ein intimes und emotionales Bild der Frauen und eine Familiengeschichte inmitten großer gesellschaftlicher Unruhen. Lina Soualem zieht die Verbindungen und bleibt trotzdem immer beim individuellen Porträt der Frauen, um sie nicht, wie so oft, im Strudel der Geschichte verschwinden zu lassen.
„Bye Bye Tiberias“ (Arabisch, Französisch, englische Untertitel) von Lina Soualem läuft an folgenden Terminen:
- 15. Oktober, 21:00 im CineStar
Anti-Klischee: „Vika!“
Im Zentrum des polnischen Films „Vika!“ steht die gleichnamige Hauptfigur, die im Alter von 84 Jahren als DJane im Nachtleben von Warschau unterwegs ist. Sie widersetzt sich damit gängigen Klischees, sowohl hinsichtlich ihres Alters als auch ihres Geschlechts. Das hat einige schöne Momente, doch die meisten der 74 Minuten Filmlänge sind eher öde.
Das liegt vor allem daran, dass man über Vika gar nicht so viel erfährt. Hier mal ein paar Weisheiten übers Älterwerden, da mal ein paar Erinnerungen an Kindheit und frühere Orte, aber das sind nur Fragmente und hinter die Fassade der 84-Jährigen blickt die Kamera selten. Mitreißend ist der Film nur, wenn es choreografierte Tanzszenen im Stile von Musikvideos zu sehen gibt – was eben vielsagend ist über die Qualität des restlichen Films.
Generell schien er beim Publikum aber gut anzukommen. Im Hauptbahnhof gab es bei der öffentlichen Vorführung langen Applaus für Regisseurin Agnieszka Zwiefka.
„Vika!“ (Polnisch, Englisch, mit englischen Untertiteln) wird an folgenden Terminen gescreent:
- 15. Oktober, 20:30 Uhr im CineStar
Keine Verurteilungen: „Sick Girls“
Bei Gitti Grüter wurde als Jugendlicher ADHS diagnostiziert. Gemeinsam mit fünf anderen Frauen, die diese und andere Diagnosen bescheinigt bekommen haben, spricht sie über Reizüberflutung, Konzentrationsschwächen, Kreativität, Impulsivität und Depression. Sie filmt sie und sich selbst in ihrem Alltag: beim Kindererziehen, auf dem Jahrmarkt, in alltäglichen Situationen.
Immer mehr wächst die Aufmerksamkeit und Awareness für ADHS. Offen reden die Frauen über Verhaltensweisen, die in der Leistungsgesellschaft aussortiert oder unterdrückt werden. Unangepasstheit ist oft unangenehm, macht einen zum Außenseiter, zu der Person, über die andere urteilen. So erzählen auch die Frauen mit Kindern von schwierigen Erziehungssituationen; ein Thema, auf dem ein besonders großes Stigma liegt.
Freundschaftlich ist der Umgang von Gitti mit den Frauen, die sie in ihrem Alltag begleitet. Sie setzt sich selbst vor die Kamera beim Telefonieren, beim Rasieren oder in Sitzungen ihrem Psychiater. Dadurch wird der Film intim und detailreich, aber nie grenzüberschreitend. Der Film (ver)urteilt, ebenso wie die Frauen gegenseitig, in keinster Weise. Diese Perspektive macht ihn angenehm und absolut empfehlenswert.
Der Film von Gitti Grüter läuft an folgenden Terminen:
- 13. Oktober, 14:30 Uhr im CineStar
- 14. Oktober, 17:00 Uhr in der Schauburg
Opposition in Russland: „The Last Relic“
Jekaterinenburg im Jahr 2017: Die Proteste gegen das russische Regime sind dürftig. Der Krieg im Donbas tobt seit 2014, der großflächige Angriffskrieg hat noch nicht begonnen. „The Last Relic“ porträtiert Menschen aus unterschiedlichen oppositionellen Gruppen. Einen jungen Mann vom „Linken Block“, einen Lehrer, der für sein Nawalny-Engagement vor Gericht verurteilt wird, einen Mann, der einen Hungerstreik überlebte, eine Gruppe von Menschen, die politische Gefangene besuchen.
Man erlebt sie auf Demonstrationen, im Kontakt mit der Polizei und in Diskussionen über Politik und Gesellschaft. Daneben stellt die estnische Regisseurin Marianna Kaat eindrucksvolle Bilder einer kirchlichen Zeremonie oder von Militärparaden. Ein Erklärfilm über die russische Opposition ist es aber nicht.
Wir erfahren teils weder die Namen der Protagonisten dieses Films noch den Kontext ihrer Proteste. Keine Sprecher*innenstimme ordnet für uns ein, warum und wie oft die Menschen protestieren, welche Repressionen sie zu befürchten haben und ob sie eine starke Rolle in der Opposition spielen oder nicht. Auch der Diskurs in Russland, in dem sich die Protagonist*innen bewegen, wird kaum beleuchtet.
Wenn man viel Vorwissen über russische Oppositionsgruppen mitbringt, ist der Film sicher spannend, weil er die Menschen sowohl individuell als auch eingezwängt in die gesellschaftlichen Verhältnisse betrachtet. Wenn man die Vorkenntnisse hingegen nicht hat, bleibt der etwas unbefriedigende Eindruck, dass man gern mehr erfahren hätte.
„The Last Relic“ (Russisch mit englischen Untertiteln) wird im Kontext des Mittel- und Osteuropa-Fokus gezeigt:
- 14. Oktober, 11:00 Uhr im CineStar
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