Corona hat uns alle verändert. Die eine mehr, den anderen weniger, doch alle waren (und sind es zum Teil noch) davon betroffen. Zwar ist für viele schon jetzt, obwohl erst seit gut einem Jahr wieder die sogenannte Normalität herrscht, der Gedanke an Zeiten von Ausgangssperre, Abstandhalten und täglichem Testen in weiter Ferne. Doch ist die Aufarbeitung der Krise und deren Folgen etwas, das uns als Gesellschaft noch lange beschäftigen wird. Mit dem Filmprojekt „Jugend trotz(t) Corona“ hat der Kreisjugendring (KJR) jungen Menschen eine Plattform gegeben, über ihre Erfahrung während der Coronakrise zu sprechen.
Den Titel haben sich die Sozialpädagogen zwar nur „ausgeliehen“ von einem Projekt, das sachsenweit unter ebenjenem Motto bereits existierte, das Ergebnis allerdings ist ein neues: Ein Film, der 12 Jugendliche im Alter von 11 bis 18 Jahren zu Wort kommen lässt – über ihre Erfahrungen während der Pandemiejahre, über ihre Sorgen und ein Gefühl des Nicht-Gehört-Werdens.
Der Ausgangspunkt für das Projekt war ein Treffen im Jahr 2021 – mitten in der Pandemie – mit Mitarbeitenden des Flexiblen Jugendmanagements (FJM) aus ganz Sachsen und Tanja Rusack von der Universität Hildesheim. Sie ist Teil eines Teams Forscher*innen unter Dr. Severine Thomas, welches die JuCo- und KiCo-Studien erstellt hat. Diese setzen sich mit den Erfahrungen junger Menschen in Deutschland während der Corona-Pandemie und deren sozialen Einschränkungen auseinander. Rusack kommt auch im Film zu Wort und war während des Projektzeitraums eine wichtige Ansprechpartnerin für die Projektleitenden.
„Mit Beginn 2022 war schließlich klar: Wir machen einen Film“, erinnert sich Thimo Lorenz, der seit 2021 beim FJM im Kinder- und Jugendring im Landkreis Leipzig arbeitet. „Schon damals zeichnete sich ab, dass Corona die brenzligen Situationen, mit denen sich Jugendarbeit schon vorher beschäftigt hat, noch verschärft hatte. Prekäre Lagen waren noch prekärer geworden.“ Ein zweiter Aspekt der Zeit sei die nahezu fehlende Repräsentation der Perspektive junger Menschen gewesen.
„Es wurde sehr viel über junge Menschen gesprochen, allerdings sehr wenig mit ihnen.“ Ein Beispiel dafür seien die „Corona-Partys“, die in den Medien damals größer gemacht wurden, als sie waren, so Lorenz. „Der Großteil der Jugendlichen hat sich stark zurückgenommen und regelkonform gelebt, nach außen wurde das allerdings ganz anders dargestellt. Deshalb war es für uns wichtig, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen und ihnen eine Stimme zu geben.“
Auf die Couch und vor die Linse
„Völlig naiv, kann man schon sagen, haben wir uns ein Setting überlegt“, lacht Lorenz bei der Erinnerung an den Beginn des Filmprojekts, an dem ein Kernteam von vier Personen beteiligt war. „Wir hatten einen Leitfaden mit Fragen, die wir entwickelt haben und sind mit einem mobilen Wohnzimmer, das auch ein wenig Gemütlichkeit mit sich bringen sollte, zu den jungen Menschen gefahren.“ Schnell wurde aus der Frage „Wie geht es dir?“ ein Gespräch, in dem sich die Jugendlichen mehr und mehr öffneten. Manche Interviews, erzählt der Sozialpädagoge, liefen schließlich über drei Stunden.
„Die ersten Versuche waren holperig, später konnten wir eine gute Routine entwickeln. Natürlich ist es erstmal schwierig, über solche intimen Themen zu sprechen. Es sollte ja darum gehen, welche Erfahrungen die befragten Personen gemacht haben in ihrem Alltag, innerhalb ihrer Familie.“
„Natürlich können wir mit den Interviews keinen repräsentativen Querschnitt der Gruppe junger Menschen abbilden. Wir haben sowohl die Personen kontaktiert, welche wir über die verschiedenen Kontaktstellen des KJR schon kennen, und uns auch mit unserem Set an unterschiedlichen Orten aufgebaut und Jugendliche vor Ort angesprochen.“
Dennoch erreichte das Team in erster Linie Personen, die sich ohnehin bereits engagierten und politisiert seien. Klar war aber auch, dass es bei dem Film vor allem darum gehen würde, überhaupt authentische Aussagen einfangen und darstellen zu können – eine Idee, die bis dato nur zu kleinen Teilen umgesetzt worden war. „
Deshalb wollten wir auch Tanja Rusack mit im Boot haben. Sie und ihr Team haben die erste Studie zu den Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen während der Pandemie veröffentlicht und inzwischen drei Befragungen durchgeführt; bis jetzt sind es noch immer die größten repräsentativen Erhebungen zu dem Thema.“
Ein großes Bedürfnis, gehört zu werden
In der Zusammenarbeit mit den Hildesheimer Forscher*innen sollte vor allem auch die Frage nach Gemeinsamkeiten und/oder Unterschieden zwischen den Ergebnissen der Studien und den Erfahrungen des Teams des KJR beleuchtet werden. „Ich war überrascht, wie viele Schnittmengen es gibt zwischen der Wahrnehmung im Landkreis und den bundesweiten Studienergebnissen.“ Zum einen kristallisierten beide Initiativen den Mangel an Repräsentation der „jungen Perspektive“ heraus.
„Die Jugendlichen, die wir befragt haben, waren sehr verwundert über die Ausführlichkeit, mit welcher wir an die Sache herangingen. Viele tauten nach ein paar Minuten auf und erzählten uns wirklich sensible Geschichten. Natürlich haben wir darauf geachtet, welche Inhalte wir schlussendlich veröffentlichten, um die Jugendlichen nicht bloßzustellen. Das Bedürfnis danach, sich mitzuteilen, aber war ganz deutlich zu spüren.“
Aus Sicht der jungen Menschen sei das Projekt, neben der Familie, der einzige Raum gewesen, in welchem sie über ihre Erfahrungen sprechen konnten. „So etwas zu hören, ist für mich als Sozialpädagoge, der im Bereich der Jugendbeteiligung arbeitet, ein Schlag ins Gesicht.“ Ein ganz klares Ergebnis der Befragungen – sowohl im Film, als auch in der JuCo-Studie – sei die traurige Erkenntnis, dass Jugendbeteiligung nicht krisenfest ist, stellt Lorenz fest.
Eine zweite deckungsgleiche Erkenntnis aus Film und Studie sei die Aussage, dass sich junge Menschen nicht von den Politiker*innen des Landes gehört fühlen. Laut JuCo-Erhebung haben zwei Drittel der Befragten nicht das Gefühl, dass ihre Perspektive im politischen System gehört wird. „Im Film drückte es junge Frau so aus: ‚Wir wurden übergangen.‘ Im Hinblick darauf, dass die jungen Menschen von heute die Erwachsenen von morgen sind, ist es eine dramatische Zahl.“
Premiere feierte „Jugend trotz(t) Corona“ im Dezember 2022 im Kulturhaus Böhlen vor etwa 50 Zuschauer*innen. Um die gewonnenen Erkenntnisse und Einblicke noch mehr Menschen zugänglich zu machen und den Raum für die Stimme der Jugendlichen zu vergrößern, bietet die Projektgruppe inzwischen öffentliche Veranstaltungen mit einer Filmvorführung und begleitender Diskussion an und sprechen vor Schulklassen.
„Es geht uns vorrangig gar nicht darum, Lösungen zu finden, sondern vor allem darum, weiterhin mit jungen Menschen in den Austausch zu treten und den Rahmen zu vergrößern, in welchem sie mit ihren Erfahrungen gehört werden.“
„Wir wurden übergangen“: Filmvorstellung „Jugend trotz(t) Corona“ erschien erstmals zum thematischen Schwerpunkt „Jugend“ im am 28. Juli 2023 im ePaper LZ 115der LEIPZIGER ZEITUNG.
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