Karen Winther war als Jugendliche in Norwegen in der Neonaziszene unterwegs. Damals beauftragte sie ihre „Kameraden“ damit, andere Menschen zusammenzuschlagen. Heute kämpft die Aussteigerin mit Schuldgefühlen – und hat sich deshalb auf die Suche nach anderen Aussteigern begeben. Der daraus entstandene Film „Exit“ zeigt brutale Geständnisse und erhellende Erklärungen.

Ich habe schon viele deprimierende Filme gesehen; seien sie dokumentarisch oder fiktional. Gerade das DOK-Programm ist in diesem Jahr reichlich damit gefüllt. Doch niemals benötigte ich danach für zehn Minuten die notdürftige Abgeschiedenheit einer Toilette im Cinestar, um das Gesehene und vor allem das Gehörte zu verdauen. Die Aussteiger-Dokumentation Exit hat das geändert.

Karen Winther war in ihrer Jugend in Norwegen in der Neonaziszene aktiv. Nach einigen Jahren gelang ihr durch ein Telefonat mit einer bestimmten Person der Ausstieg. Die Alternativen wären – so sagt sie es später selbst – eine wohl lebenslange Karriere als Neonazi oder baldiger Selbstmord gewesen. Nun ist sie knapp 40 Jahre alt, besuchte in der Zwischenzeit eine Filmhochschule und stößt beim Umzug auf Kisten mit Szenematerial aus der Vergangenheit. Die wieder aufkommenden Schuldgefühle und Erinnerungen veranlassen sie zu einer Suche nach weiteren Aussteigern.

Auf ihrer Reise, die sie unter anderem nach Deutschland und in die USA führt, trifft sie auf Menschen, die unfassbare Verbrechen begangen haben. Ein deutscher Ex-Neonazi erzählt, wie er auf Kinder und Schwangere eintrat – und bis heute anderen Menschen nicht mehr lange in die Augen schauen kann, weil er darin irgendwann immer die Augen eines seiner Opfer erkennt. Die damaligen Kameraden bedrohen und verprügeln ihn mittlerweile; andere beschimpfen ihn immer noch als „Nazi“.

Plädoyer für eine zweite Chance

Der Film ist kaum zu ertragen. Die Protagonisten erzählen mit brutaler Offenheit über ihre Taten und die Dokumentation zeigt darauf aufbauend mit quälender Genauigkeit, wie das ihr eigenes Leben zerstört hat. Der Filmemacherin geht es nicht darum, Verständnis oder Mitleid zu erhaschen – vielmehr legt „Exit“ schonungslos offen, welchen Schmerz manche Menschen sich und anderen zufügen können.

Er zeigt aber auch, wie schnell selbst die übelsten Menschenfeinde wieder zu mitfühlenden Wesen werden können. In nahezu allen der hier geschilderten Fälle waren es unerwartete Begegnungen mit Personen, die sich gegenseitig eigentlich als Feinde betrachten müssten. Doch die Neonazis und Islamisten wurden in jenen Momenten menschlich behandelt und kamen zur Einsicht. Was mit Sicherheit kein Plädoyer dafür ist, extremen Rassisten das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Aber es ist ein Plädoyer für eine zweite Chance.

Großes Kino

Nur eine Stunde danach war ebenfalls im Cinestar die Dokumentation Cinema Morocco zu sehen – ein glücklicherweise verhältnismäßig aufheiternder Film. Regisseur Ricardo Calil besucht darin ein zwischenzeitlich von etwa 2.000 Personen besetztes Kino in Sao Paulo. Immer wieder wurde angekündigt, es zu renovieren, doch nichts ist geschehen. Dann ergriffen Obdachlose, Geflüchtete und andere Marginalisierte selbst die Initiative und zogen dort ein.

Calil trat mit einer Idee an die Bewohner heran: Er möchte Filmklassiker, die vor mehr als einem halben Jahrhundert dort gezeigt wurden, neu drehen – mit den Laiendarstellern. Einige Freiwillige melden sich, sodass die Dreharbeiten beginnen können. Original-Filmausschnitte, die Neuinterpretationen und Gespräche mit den Beteiligten wechseln sich ab. Darin erfährt man viel über die teilweise traumatischen Ereignisse, die sie durchleben mussten. Am Ende ergibt das einen eher positiv stimmenden Film, der von der Lebensfreude seiner Protagonisten profitiert. Eine besondere Handschrift erkennt man jedoch nicht.

Im anschließenden Publikumsgespräch mit den Filmemachern schließt sich dann jedoch der Kreis zu dem Werk, das vorher zu sehen war. Sie berichten von der Angst, die seit dem vergangenen Sonntag nochmals zugenommen hat, weil ein Faschist zum Präsidenten gewählt wurde. Jene, die in dem Kino lebten, aber auch die Künstler, die mit ihnen arbeiteten, seien nun besonders gefährdet. Das wiederum ist alles andere als ein optimistischer Ausblick auf die kommenden Zeit.

DOK Leipzig, Tag 4: Radikaler Fokus auf Feministinnen und Opfer von Rassismus

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