Die SPD feiert in diesem Jahr Geburtstag. Zum 150. Geburtstag gibt es einen abendfüllenden Film. In 90 Minuten wird Geschichte dargestellt, erzählen prominente und weniger prominente Sozialdemokraten über ihren Weg in und mit der SPD. "Wenn du was verändern willst" hatte am Freitag, 8. Februar, in Leipzig Premiere. In der Stadt, wo 1863 alles begann.

Der SPD, Deutschlands ältester demokratischer Partei, geht es um Veränderung. Das erfährt man schon aus dem Titel des Films, den Thomas Hintz zum 150. Geburtstag der Partei am 23. Mai dieses Jahres produziert hat. Am letzten Freitag hatte der Film in Leipzig im Kino CineStar seine bundesweite Premiere. Denn im Osten der Stadt wurde vor eineinhalb Jahrhunderten der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) gegründet.

Das Wort Veränderung sagt ja erstmal nichts über Ziele und Mittel der angestrebten Veränderung aus. “Sozialismus” galt unter den Genossen lange als das erstrebenswerte Ziel. Ob der Sozialismus sich nun “naturnotwendig” – und somit fast wie von allein – durch eine Zunahme des Anteils der Arbeiter an der Gesamtbevölkerung im Zuge der Industrialisierung einstellen sollte, durch eine bewusst herbeigeführte Revolution oder durch freie Wahlen und demokratische Reformen, das war unter Genossen lange streitig.

Mehr Demokratie wagen

Im Oktober 1969 dann der eine Satz, der jenseits aller Parteiprogramme Mittel und Ziel endlich wieder stimmig zusammenbrachte. “Wir wollen mehr Demokratie wagen” lautete das Motto der ersten Regierungserklärung des westdeutschen sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt (1913 – 1992). Ein Satz, der bis heute nachwirkt.

“Mehr Demokratie wagen” ist auch eines der Themen des aktuellen Leipziger Oberbürgermeisterwahlkampfes. Von Transparenz und Bürgerbeteiligung ist viel die Rede. “Neue Formen der Partizipation” solle es in Leipzig geben, beispielsweise über “Denkwerkstätten” wolle man mehr Bürger einbinden, sagte Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) bei der Premiere.

In der Talkrunde nach dem Film gab sich das Stadtoberhaupt, Jahrgang 1958, als Willy-Brandt-Fan zu erkennen. Zu Studienzeiten hätten ihm die Pershings und Cruise Missiles den Weg in die SPD noch versperrt, die seinerzeit in Folge des NATO-Doppelbeschlusses in der Bundesrepublik aufgestellt wurden. Als Leipziger Sozialbeigeordneter trat Jung zu Beginn dieses Jahrtausends in die SPD ein, etwa um einer besseren Bildungspolitik willen.
“Mehr Demokratie wagen”, das wollten bereits die demokratischen Revolutionäre der Jahre 1848/49. Wer eine Parteigeschichte als deutsche Demokratiegeschichte erzählen will, kommt an diesem Datum eigentlich nicht vorbei. Gerade deshalb nicht, weil die 1871 erfolgte deutsche Nationalstaatsbildung mit undemokratischen Hypotheken belastet wurde, die noch dramatische Folgen haben sollten. Und auch deshalb nicht, weil sich 1848 die ersten gesamtdeutschen Arbeiterorganisationen bildeten.

Bereits das hatte viel mit Leipzig zu tun: Der hiesige Abgeordnete der deutschen Nationalversammlung, Robert Blum (geboren 1807), wurde am 9. November 1848 in Wien von kaiserlichen Soldaten nach der Niederschlagung der dortigen Revolution erschossen. Die “Arbeiterverbrüderung” des Stephan Born (1824 – 1898) wich 1848 der preußischen Reaktion aus und siedelte ihre Zentrale in Leipzig an. Der Revolutionsveteran Wilhelm Liebknecht (1826 – 1900) wurde nach seiner Ansiedlung in Leipzig 1865 einer der Gründerväter der deutschen Sozialdemokratie.

Über diesen Spannungsbogen der demokratischen Revolutionen 1848/49, 1918/19 und 1989/90 hätte man Veränderungsgeschichte bestens erzählen können – und das auch noch aus gesamtdeutscher Perspektive. Der Film zum SPD-Jubiläum setzt 1850 ein.
“Mehr Demokratie wagen” wollten auch die sächsischen Sozialdemokraten, die sich ab 1918 ohne bürgerliche Koalitionspartner an die Gestaltung des ersten sächsischen Freistaates machten. Der spätere Leipziger Oberbürgermeister Erich Zeigner (1886 – 1949) wurde Ende Oktober 1923 von Reichsregierung und Reichswehr als Ministerpräsident abgesetzt. Den “Sachsenkonflikt” spart der Film aus.

Und da ist noch ein historisches Jahr, das für Veränderung steht: 1968. Matti Geschonneck hat mit seinem Film “Boxhagener Platz” 2010 gezeigt, wie man 1968 in den gesamteuropäischen Zusammenhang stellt. Warum stagniert denn in Ost-Berlin und nahezu dem gesamten Ost-Block alles, wenn in West-Berlin und nahezu in der gesamten westlichen Welt Studenten und teils auch Arbeiter Veränderungen einfordern, ist die Leitfrage dieses Films. Der ehemalige Spartakuskämpfer Karl Wegner (überzeugend dargestellt von Michael Gwisdek) fragt sich, was sein Leben in der “sozialistischen Menschengemeinschaft” denn zu tun hat mit den Idealen seiner Jugend: den Idealen der Arbeiterbewegung und seinem Traum vom Sozialismus. Denn 1968 verbindet sich zugleich mit der Niederschlagung des Prager Frühlings, dem Versuch eines “Sozialismus mit menschlichem Antlitz”.

“Mehr Demokratie wagen” hatte unter Willy Brandt eine deutschland- und friedenspolitische Entsprechung: die neue Ost- und Deutschlandpolitik. “Wandel durch Annäherung” war deren griffige Formel: also Wandel als Ziel und Annäherung als Mittel. Diese Unterscheidung schien in den 1980er Jahren einer nachfolgenden Generation westdeutscher Sozialdemokraten nicht immer geläufig.

Auszunehmen ist der westdeutsche Hauptautor des SPD-SED-Papiers “Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit” aus dem Jahre 1987, Erhard Eppler. Er suchte den Dialog nicht nur mit den Mächtigen in Mittelosteuropa. Sondern auch mit jenen, die damals östlich des Eisernen Vorhangs “Mehr Demokratie wagen” wollten. Am 17. Juni 1989 hielt Eppler im Bundestag eine viel beachtete Rede, die die deutsche Einheit als demokratisch legitime Option eben gerade nicht ausschloss.

Als dann immer mehr Menschen in Mittelosteuropa und in der DDR im Herbst 1989 mehr Demokratie wagten, fanden sie auf Seiten der westdeutschen Sozialdemokratie insbesondere in Willy Brandt einen Adressaten ihres Wunsches nach Freiheit und Einheit.

Weg mit Klassen- und Geschlechterschranken“Mehr Demokratie wagen” heißt Ausweitung des Wahlrechts und des Bürgerrechts auf alle. Hier hat die deutsche Sozialdemokratie in den letzten 150 Jahren Klassenschranken eingerissen. Denn nur der besitzende Mann war im 19. Jahrhundert Bürger mit Wahlrecht. Die weniger besitzenden Männer kamen schrittweise hinzu. Das Wahlrecht für Frauen setzten die Sozialdemokraten in der Revolution 1918/19 durch.

Ein Kind des Leipziger Südens steht beispielhaft für das, was danach möglich wurde. Mehrfach im Film ist Annemarie Renger zu sehen. Sie kam am 7. Oktober 1919 in Leipzig als Kind des sozialdemokratischen Arbeitersportfunktionärs Fritz Wildung zur Welt. Von 1953 bis 1990 gehörte sie dem Bundestag an. Von 1972 bis 1976 bekleidete sie als erste Frau das protokollarisch dritthöchste Amt im Staat. “Es ist bewiesen, dass eine Frau das kann”, sagte sie 1976 nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt der Bundestagspräsidentin. Auf dem Feld der Geschlechtergerechtigkeit bleibt dennoch viel zu tun.

“Mehr Demokratie wagen” im Sinne eines inklusiven “Rechts, Rechte zu haben” (Hannah Arendt) verbindet sich heute mit Integration. Dabei ist die Geschichte der Sozialdemokratie als großstädtischer Bewegung von Beginn an eine Zuwanderungsgeschichte, wie Oberbürgermeister Jung an der Bevölkerungsexplosion Leipzigs zwischen 1850 und 1930 erläuterte.

Der gebürtige Essener Michael Vassiliadis (Jahrgang 1964) kommt im Film mehrfach zu Wort. Als Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) spricht der Sohn griechischer Einwanderer zu gewerkschaftlichen Themen. Menschenwürdige Arbeitsbedingungen, partnerschaftliche Arbeitsbeziehungen und soziale Gerechtigkeit bleiben Voraussetzungen einer demokratischen Ordnung.

So bietet der Film viel an Information und Emotion. Urgesteine der Partei wie Hans-Jochen Vogel, Erhard Eppler (beide Jahrgang 1926) und der vormalige Bundeskanzler Helmut Schmidt (Jahrgang 1918) erklären Jahrhundertgeschichte. Junge Menschen erläutern, warum sie gerade in der SPD ihre Vorstellungen von einer besseren Welt verwirklichen wollen.

Etwas mehr “Bewegung” und etwas weniger “staatstragende Partei” hätte man sich mitunter gewünscht. So “links und frei” wie es Willy Brandt formulierte.

Vereinigung von Bildung und Solidarität

Für den SPD-Bundesvorsitzenden Sigmar Gabriel begann seine Partei als “Befreiungsbewegung”. Durch die Vereinigung von Sozialdemokratischer Arbeiterpartei (SDAP/ Bebel-Liebknechtsche Richtung) und dem ADAV zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) 1875 in Gotha seien “Bildung” und “Solidarität” zusammengekommen, so Gabriel weiter.

Gabriel sieht seine Partei heute als eine “Partei der Freiheit” – und das in einem umfassenden Sinne. Die SPD hätte in ihrer Geschichte nichts gemacht, wofür sie sich so schämen müsste, dass eine Umbenennung erforderlich gewesen wäre, befand Gabriel zu Beginn der Premierenveranstaltung. Konservative und Liberale hingegen hätten 1933 die erste deutsche Demokratie “verraten”, so Gabriel.

Nach den Worten des SPD-Chefs werde es nun “deutschlandweit Filmabende gehen, die SPD-Gliederungen vor Ort organisieren und zu denen neben Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten auch ihre Freunde und interessierte Bürgerinnen und Bürger eingeladen sind”.

www.150-jahre-spd.de

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