Woher weiß man überhaupt, wann Johann Sebastian Bach (1685–1750) seine Werke komponierte? Wie identifiziert man unbekannte Notenhandschriften? Und wie haben Bach-Forscherinnen und -forscher in Ost und West während des Kalten Krieges zusammengearbeitet? Die Sonderausstellung im Bach-Museum Leipzig gibt ab dem Freitag, dem 21. März, bis zum 23. November auf leicht verständliche, spielerische und sinnliche Weise Einblicke in „Meilensteine der Bach-Forschung“.
Seit 75 Jahren untersucht das Bach-Archiv Leipzig Leben, Werk und Wirken Johann Sebastian Bachs und seiner weitverzweigten Familie. Seit 40 Jahren vermittelt das Bach-Museum Leipzig das Erbe dieser einzigartigen Musikerfamilie an ein breites Publikum aus dem In- und Ausland. Längst sind nicht alle Forschungsfragen beantwortet.
Ganz im Gegenteil: Intensive Quellenforschung wirft beständig neue Fragen auf und führt zur Entwicklung innovativer Forschungsmethoden. Der technische Fortschritt verändert die Wissenschaftslandschaft nachhaltig und bietet der Bach-Forschung vielfältige Chancen. Viele Geheimnisse warten darauf, gelüftet zu werden.
Kerstin Wiese, Leiterin des Bach-Museums, sagt dazu: „Die Sonderausstellung zum Doppeljubiläum ‚75 Jahre Bach-Archiv Leipzig‘ und ‚40 Jahre Bach-Museum Leipzig‘ möchte ein breit gefächertes Publikum für die Bach-Forschung begeistern und so die Relevanz von Wissenschaft verdeutlichen. Sie versteht sich als Beitrag zur Wissenschaftskommunikation.“
1. Johann Sebastian Bach
Im Zentrum der Ausstellung werden ausgewählte Meilensteine der Forschung zu Johann Sebastian Bach vorgestellt: So führte die systematische Untersuchung der Notenpapiere, ihrer Wasserzeichen und Schreiber im Zuge der Neuen Bach-Ausgabe (NBA) Ende der 1950er Jahre zu bahnbrechenden Umdatierungen der Bachschen Kirchenkantaten.
Die NBA verwendete als erste Musikergesamtausgabe konsequent solche philologischen Methoden und wurde damit zum Vorbild aller weiteren Gesamtausgaben der Nachkriegszeit.
Die Entdeckung des unbekannten Textdichters Christoph Birkmann 2015 brachte die Bach-Forschung auf eine völlig neue, vielversprechende Spur: Offenbar konnte Bach seine Wünsche an Dichtungen im direkten Kontakt mit poetisch begabten Studenten wie Birkmann viel besser umsetzen als im Rückgriff auf gedruckte Kantatentexte. Die aktuelle Forschung fahndet nun in dieser Personengruppe, um weitere unbekannte Textdichter zu ermitteln.
Die Identifizierung der frühesten Notenhandschriften Johann Sebastian Bachs warf 2005 Licht auf seine Lehrjahre und lieferte den Beleg, dass er in Lüneburg bei dem bekannten Organisten Georg Böhm in die Lehre ging. Er war weit weniger Autodidakt, als es seine Söhne die Nachwelt glauben lassen wollten.
Aktuelle Untersuchungen zu Bachs späten Kopisten lüfteten erst 2024 das Geheimnis um jenen unbekannten Freund, dem der erblindete Bach seinen berühmten „Sterbechoral“ BWV 668 (überliefert in „Die Kunst der Fuge“) in die Feder diktierte: Es handelt sich um Bachs Schüler Christoph Transchel, der später sein Privatsekretär, Kopist und Hauslehrer der jüngsten Kinder wurde.
Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Wollny, Direktor des Bach-Archivs, betont: „Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Forschungsabteilung widmen sich mit großem Enthusiasmus den noch ungelösten Problemen von Bachs Leben und Schaffen. Wie bei einem Puzzle werden geduldig eine große Zahl von Einzelerkenntnissen zu einem größeren Bild zusammengefügt. So wird die Lebenswirklichkeit des großen Komponisten erfahrbar.“
2. Die Musikerfamilie Bach
Ein weiterer Ausstellungsbereich ist Forschungen zur Musikerfamilie Bach gewidmet: Die Wiederentdeckung des seit dem Zweiten Weltkrieg verschollenen Archivs der Sing-Akademie zu Berlin 1999 in Kiew war eine Sensation. In 241 Kartons voller Noten, die 2001 von der Regierung der Ukraine nach Berlin zurückgegeben wurden, fanden sich rund 500 Quellen zu Kompositionen der Musikerfamilie Bach.
Der Fund beflügelte die Forschung. Plötzlich war es möglich, das verloren geglaubte kirchenmusikalische Werk von Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel zu untersuchen. Um sich die Arbeit zu erleichtern, schuf er Passionen aus eigenen und fremden Kompositionen. Seine Kopisten mussten mithilfe einer „Bauplan-Partitur“ und diverser Vorlagen die Noten für die Aufführung erstellen.
„Besonders wichtig ist es uns, nahbare Zugänge zu schaffen“, erklärt Kuratorin Henrike Rucker. „So können die Museumsgäste an einer interaktiven Station in die Rolle eines Kopisten schlüpfen. Kostbare Notenhandschriften und Erstdrucke entführen in das musikalische Universum der Bach-Familie, Hörstationen laden zum Schwelgen in der Musik ein.
Eine Schaubibliothek stellt auf sinnliche Weise das geballte Wissen vor, das von der Leipziger Bach-Forschung und ihren Kooperationspartnern im Laufe von 75 Jahren zusammengetragen wurde.“
3. Wissenschaft im Wandel vom analogen zum digitalen Zeitalter
Ein dritter Teil führt den Wandel vom analogen zum digitalen Zeitalter in der wissenschaftlichen Archivierung und Erschließung vor Augen: Wurden Abbildungen von Noten und Schriftzeugnissen zunächst in unzähligen Dokumentenmappen und Mikrofilmen archiviert, so sind sie heute im Online-Portal „Bach digital“ überall auf der Welt abrufbar. An einer Medienstation können die Museumsgäste die vielfältigen Möglichkeiten von „Bach digital“ kennenlernen. Ein originelles Lochkartensystem zur Bestimmung von Schreibern zeugt von kreativem Erfindungsgeist.
Im jüngsten Exzellenzprojekt – dem Forschungsportal BACH – kommt schließlich Künstliche Intelligenz zur Übertragung von Schriftdokumenten zum Einsatz. Das 2023 gestartete Projekt der Sächsischen Akademie der Wissenschaften mit Sitz am Bach-Archiv Leipzig wird in einem Zeitraum von 25 Jahren erstmals alle verfügbaren nicht-musikalischen Archivquellen zur Musikerfamilie Bach digital erschließen und öffentlich zugänglich machen.
An einer Medienstation können die Gäste Prinzipien des Forschungsportals BACH schon jetzt – bevor es offiziell online geht – kennenlernen und ausgewählte Dokumente in die verschiedenen Bearbeitungsschritte ziehen.
4. Ein Blick in die Geschichte
Ein einleitender Ausstellungsbereich mit historischen Fotos, Programmen, Briefen und anderen Sammlungsstücken macht die Atmosphäre der Gründungszeit des Bach-Archivs kurz nach Staatsgründung der DDR lebendig. Ein wichtiger Impuls war die Deutsche Bach-Feier 1950, bei der auch DDR-Staatspräsident Wilhelm Pieck das Bach-Grab in der Thomaskirche besuchte.
Marxistische und bürgerliche Wissenschaft stritten um das richtige Bach-Bild. Eine Hörstation vermittelt einen Eindruck vom Musikverständnis der Zeit. Telegramme, Dienstreiseanträge und Sachberichte erzählen von den widrigen Umständen, unter den Bach-Forscherinnen und -Forscher in Ost und West während des Kalten Krieges zusammenarbeiteten.
Exponate
Zu den Ausstellungsstücken zählen kostbare Autografe wie die Orgeltabulatur der „Fantasie c-Moll“ BWV 1121 von Johann Sebastian Bach (aus dem Andreas-Bach-Buch), Aufführungsstimmen der Kantate „Dies ist der Tag“ von Wilhelm Friedemann Bach und ein Brief Carl Philipp Emanuel Bachs an Johann Nikolaus Forkel – den ersten Biografen Johann Sebastian Bachs. Bachs Sterbechoral BWV 668 ist im Originaldruck der „Kunst der Fuge“ ausgestellt.
Begleitprogramm
Ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm lädt das ganze Jubiläumsjahr über dazu ein, auf ganz unterschiedliche Weise in die Thematik einzutauchen und mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Dialog zu treten.
Das Bach-Museum Leipzig befindet sich am Thomaskirchhof 15/16, gegenüber der Thomaskirche. Es ist dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr geöffnet.
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