Der Tod gilt als Zumutung, als Tabu, mit dem sich der moderne Mensch gerade in westlichen Breiten nicht so gern befasst – oder nur aus der Distanz, wenn er Meldungen von Kriegen und Unfällen hört oder zum Feierabend die reißerischen Plots von TV-Krimis genießt. Eine neue Sonderausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums bereitet das Thema vielschichtig und keineswegs nur todtraurig auf: Wie wurde eigentlich in Leipzig zu früheren Zeiten gestorben und mit dem Tod umgegangen?
Zahlreiche Aspekte rund um das ebenso sensible wie wichtige Thema Tod werden in der Sonderausstellung „R.i.P. – die letzte Adresse“ behandelt.
Seit 20. März lädt das Stadtgeschichtliche Museum dazu ein, sich im Böttchergäßchen 3 den so wichtigen Fragen zu nähern, die bis in unsere Gegenwart reichen: Wie gingen die Menschen in Leipzig früher mit dem Tod um, der ihnen angesichts von Kriegen und Seuchen viel häufiger direkt ins Auge sah? Wie haben sich die Rituale im Umgang mit dem Sterben bis in die Gegenwart gewandelt, und welche Tendenzen zeichnen sich für die Zukunft ab?
Die exklusive Gesellschaft in Mittelalter und Neuzeit
Fragen, mit denen sich Ulrike Dura intensiv auseinandergesetzt hat. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Steffen Poser hat die Kuratorin des Stadtgeschichtlichen Museums etwa ein Jahr an der Konzeption und Umsetzung der laufenden Ausstellung gearbeitet. Nach einer kurzen Einführung in das Thema und einem Exkurs zu unseren Vorfahren – schon der Neandertaler und der frühe Homo sapiens kannten nachweislich Bräuche der Totenbestattung – werden Besucher direkt ins mittelalterliche Leipzig versetzt.
Üblich war es damals, Verstorbene im Bereich in und um Kirchen (daher der „Kirchhof“) zu bestatten – je näher bei den Reliquien, desto größer der Schutz für die Seelen auf ihrer Reise, so glaubte man. Generell war die Nähe Lebender und Verstorbener viel größer als heute: „Es war ein Miteinander, ein Geben und Nehmen von Lebenden und Toten“, weiß Ulrike Dura. So wurde von den Lebenden die Fürbitte zugunsten der Toten erwartet, diese wiederum waren verpflichtet, für die Lebenden ein gutes Wort einzulegen.
Wer außerhalb der Gemeinschaft stand, hatte freilich kaum Chancen, seinen letzten Platz bei oder in der mittelalterlichen Kirche St. Nikolai, der Thomaskirche oder den Klöstern zu finden. Das betraf etwa Hingerichtete, Suizidenten oder Exkommunizierte, die außerhalb von Kirche und Stadtmauern verscharrt wurden.
Wohin mit den Verstorbenen? Krach um Hygiene und Theologie beim Friedhofsstreit
Die hygienischen Zustände, der Gestank und der Platzmangel im Zuge der Kirchenbestattung wurden jedoch immer dramatischer. 1531 entschied der Leipziger Stadtrat, allein den seit dem 13. Jahrhundert bestehenden Hospitalfriedhof St. Johannis vor dem Grimmaischen Tor zu nutzen.
Doch selbst die Unterstützung des Landesherrn verhinderte nicht, dass höhere Schichten die Verordnung einfach umgingen: Kleriker, Ratsherren, Adelige, Stifter – wer das Geld hatte, ließ sich weiter in einer Kirche beisetzen. Auch Luthers Reformationsbewegung befürwortete die Auslagerung der Friedhöfe aus theologischem und hygienischem Denken heraus, stieß jedoch auf teils heftigen Widerstand.
Der „Leipziger Friedhofsstreit“ war letztlich Ausdruck eines Umbruchs, des Kampfes zwischen katholischen und lutherisch-reformierten Ideen. Die Beharrungskräfte blieben über 250 Jahre lang stark, erst 1790 waren Kirchenbestattungen in Leipzig endgültig untersagt. Im 19. Jahrhundert entstanden 1846 der Neue Johannisfriedhof (heute Friedenspark) und 40 Jahre später der berühmte Südfriedhof.
Was es mit „viertel-, halber- oder ganzer Leiche“ auf sich hat
Es sind nur Beispiele für die vielen, oft wenig bekannten Geschichten aus der Leipziger Vergangenheit, welche die atmosphärisch dichte Ausstellung mit ihren vielen Informationstafeln, Objekten und Bildern zu erzählen weiß. Zu den beeindruckenden Exponaten zählt beispielsweise auch ein Pestkarren aus dem 17. Jahrhundert, eine Leihgabe der Taborkirche. Galten solche Karren und auch Särge lange als unehrenhaft, stellte nun die Angst vor Seuchen und Ansteckung das entscheidende Argument dar.
Und wer sich bei der schockierenden Frage nach „viertel-, halber- oder ganzer Leiche“ nachvollziehbar erschrickt, wird aufgeklärt, dass es sich um ein bis ins 18. Jahrhundert übliches Rechenmuster handelte, wie viele Sänger der Thomasschule für eine Beerdigung aufgeboten wurden: Konnte der ganze Chor oder eben nur ein Viertel davon zur Beisetzung kommen? Die Antwort hing schon seinerzeit vom Geldbeutel ab, genauso die Zahl der Glocken, der Bläser oder die Wagenbegleitung des Trauerzugs.
„Es war schon immer so, dass es den sozialen Status widerspiegelt“, sagt Kuratorin Ulrike Dura.
Rätselhafte Grabfunde und ein Weltgerichts-Relief
Besonders freut es sie, dass im Zuge der ausgiebigen Erforschung des Themas neue Kenntnisse ans Tageslicht kamen. So konnte Dura anhand von Indizien die bisher unbekannte Herkunft eines Reliefs klären, das auch in der Ausstellung zu sehen ist und das sogenannte Weltgericht darstellt. Dieses stammt, laut Dura mit fast hundertprozentiger Sicherheit, vom Portal des Alten Johannisfriedhofs.
Eine Ausstellungsstation zeigt zudem Grabfunde des untergegangenen Ortes Breunsdorf im Leipziger Südraum aus dem 18. und 19. Jahrhundert: Hier stießen Archäologen auf Münzen, Waschschüsseln, Kämme – und eine Totenkrone, die besonders unverheiratet Verstorbene wie Babys, Kinder, Teenager und Jungerwachsene mit ins Grab bekamen, ein Symbol des unvollendeten Lebenszyklus.
Bemerkenswert scheint dies, weil das Christentum solche Grabbeigaben eigentlich nicht kennt. Hier scheint sich die Religion mit traditionellem Volks- und Aberglauben vermischt zu haben, was Rückschlüsse auf die Denk- und Lebenswelten vor hunderten Jahren zulässt. „Das hat uns auch sehr überrascht“, sagt Ulrike Dura.
Die Lebensuhr tickt bei jedem unerbittlich
Die Ausstellung spannt den Bogen weiter von den Kontroversen um die Feuerbestattung im 19. Jahrhundert bis in die DDR-Zeit mit Materialmangel und der politischen Vereinnahmung selbst von Trauerritualen. Letztlich enden wir in der Gegenwart. Sie ist geprägt von starker Individualisierung und der digitalen Trauerkultur im Netz.
Auch die teils schwarz-humoristische Verarbeitung der Todesthematik in der Popkultur wird thematisiert, ebenso die jüdischen Friedhöfe Leipzigs, von denen der erste 1814 in Johannistal angelegt worden war.
An Monitoren können Interviews mit einem Rabbiner, einem Pfarrer, einem Imam, einer Trauerrednerin, einem Bestatter und einer Angehörigen der Bahá’í in Leipzig angeschaut werden, die ihre Sicht auf den Tod schildern. Zitate zum Thema Tod an der Wand und ein gelegentliches „Gong“-Geräusch wirken wie ein mahnender Hinweis an unsere unerbittlich verrinnende Lebenszeit.
Es ist eine höchst beeindruckende Ausstellung, die viele Anregungen zum Nachdenken bietet und bei der man einiges dazulernen kann. Bei Ulrike Dura war dies definitiv der Fall: Sie sieht durchaus einen Wandel beim vermeintlichen Tabuthema Tod. „Es passiert gerade viel. Ich glaube nicht mehr, dass es so ein Tabu ist.“
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Die Ausstellung hat noch bis zum 1. September 2024 ihre Pforten geöffnet und bietet bis dahin ein vielfältiges Programm an. Weitere Informationen finden Sie beim Stadtgeschichtlichen Museum.
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