Historiker wissen, wie fragil ihre Forschung ist, wie leicht sich falsche Ansichten und (politische) Einseitigkeiten einschleichen und dann ganzen Generationen ein Bild von der Geschichte vermitteln, das bestenfalls einseitig, wenn nicht gar falsch ist. Ab Dienstag, dem 19. September, treffen sich die deutschen Historiker zu ihrem 54. Historikertag in Leipzig unter dem Motto „Fragile Fakten“. Und deshalb gibt es auch ausnahmsweise eine kleine, aber eben historische Schaufenster-Buchausstellung.
Was können Geschichtslehrer/-innen gegen „Fake News“ tun? Wie authentisch sind historische Quellen? Wer erzählt welche Geschichte und warum? Unter dem Motto „Fragile Fakten“ stellt der 54. Deutsche Historikertag kritische Fragen rund um historische Tatsachen, Gerüchte und Mythen.
Bei dem Kongress in Leipzig kommen vom 19. bis 22. September rund 2.000 internationale Historiker/-innen zusammen, um aktuelle Forschungsergebnisse zu präsentieren.
Eröffnet wird der Historikertag am 19. September um 18 Uhr in der Leipziger Nikolaikirche, u. a. mit einer Festrede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Grußworten von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sowie der Leipziger Universitätsrektorin Prof. Dr. Eva Inés Obergfell.
Geschichtsmythen und polarisierende Botschaften
In den 100 Veranstaltungen wird es dann sehr konkret: Über die Epochen hinweg geht es in vielen der Veranstaltungen um die Frage, wie historisches Wissen mit politischen und sozialen Motiven zusammenhängt. Dabei diskutieren die Geschichtswissenschaftler/-innen auch über neue Herausforderungen für ihr Fach – von der künstlichen Intelligenz über die europäische „Zeitenwende“ bis hin zu den Arbeitsbedingungen in der Ukraine und in Russland.
Die Ausrichter des Fachkongresses sind der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD), der Verband der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e. V. (VGD) sowie die Universität Leipzig, auf deren Campus die meisten Veranstaltungen stattfinden.
„Wir freuen uns, dass der Historikertag prominente Unterstützer und ein so breites Publikum findet“, sagt Lutz Raphael, Vorsitzender des VHD. „Mit dem Schwerpunkt ‚Fragile Fakten‘ blicken wir gemeinsam auf die aktuelle Debatte rund um ‚Fake News‘ und historische Propaganda: Machthaber verbreiten Geschichtsmythen, um ihre Politik zu legitimieren. Algorithmen und Erzählformate auf Social Media bevorzugen polarisierende, eindeutige Botschaften.
Die Öffentlichkeit streitet über Geschichte – kurzum, die Expertise von Historiker/-innen ist gefragter denn je. Auf der Suche nach der historischen ‚Wahrheit‘ stoßen wir aber auf ein Paradox: Historische Fakten sind fragile Gebilde. Ihr Entstehungskontext gehört immer wieder auf den Prüfstand. Darüber wollen wir in Leipzig sprechen.“
Die Rolle der Schwarzen Reihe
Das beste Beispiel für so einen schwierigen Umgang mit Geschichte ist ja nun einmal das NS-Reich mit all seinen Verbrechen. Jahrzehntelang war die Forschung zu den NS-Verbrechen geradezu ein Nischenthema, öffentlich sogar heftig beschwiegen. Denn viele Deutsche, gerade in führenden Positionen, waren einst Teil des NS-Regimes gewesen, hatten mitgewirkt an der Organisation der Verbrechen. Manch scheinbar „weiße Weste“, die da in Amt und Würden war, war in Wirklichkeit schwer belastet.
Aber das alles wurde erst Thema, als die Studenten in den 1960er Jahren den „Muff aus 1.000 Jahren“ anprangerten. Und als mutige Autoren und Verlage begannen, die Struktur und die Verbrechen des NS-Regimes systematisch aufzuarbeiten.
Eine ganz wichtige Rolle spielte dabei die sogenannte Schwarze Reihe, die von Walter H. Pehle entwickelt wurde und im S. Fischer Verlag erschien. Einige Titel wurden geradezu zu Marksteinen in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus.
Im April gab es im Rahmen der möglicherweise letzten BuWision schon eine Ausstellung der Schwarzen Reihe – bzw. einer zwingend notwendige Auswahl aus über 250 Titeln – im „Pilot“.
Schwarze Reihe im Kochhochhaus
Am 12. September haben die Leipziger Buchwissenschaftler nun noch einmal eine kleine Ausstellung der Schwarzen Reihe für den Historikertag aufgebaut. In zwölf Fenstern rund um das Ägyptische Museum in der Goethestraße (Krochhochhaus) und in der Theaterpassage erzählen die Bücher und kleine Erläuterungstexte die Geschichte der Schwarzen Reihe.
Die Universität Leipzig, Bo-Concept und Gentlemens Cut waren sofort bereit, das neue Projekt der Buchwissenschaftler zu unterstützen.
Und auch das Ägyptische Museum, das ja mit vollständigem Namen Ägyptisches Museum – Georg Steindorff – der Universität Leipzig heißt, ist der richtige Rahmen für so eine Ausstellung.
Denn der Leipziger Ägyptologe Georg Steindorff, aufgewachsen in einem liberalen jüdischen Elternhaus, wurde Opfer der NS-Gesetzgebung gegen die jüdischen Mitbürger, auch wenn ihm 1939 mit seiner Familie noch die Emigration in die USA gelang. Und auch das Krochhochhaus hat ja bekanntlich eine jüdische Geschichte.
Sein Erbauer, Hans Kroch, wurde am 10. November 1938 nach der Pogromnacht verhaftet und ins KZ Buchenwald, später Sachsenhausen verschleppt. Ihm gelang später noch die Flucht über Amsterdam nach Argentinien, während seine Frau Ella 1940 von den Nazis ins KZ Ravensbrück deportiert und dort 1942 ermordet wurde.
Die Verdienste Walter Pehles
Das Verdienst der Schwarzen Reihe war eben auch, dass viele Titel den Deutschen wieder vor Augen führten, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten vor aller Augen stattfanden und im Grunde kein Ort verschont wurde. Mitten in unseren Städten erinnern Häuser, Plätze und Straßen an die verfolgen und getöteten Mitbürger und insbesondere an die jüdischen Nachbarn, an welche die Erinnerung fast ausgemerzt war, als Buch um Buch in der Schwarzen Reihe wieder sichtbar machte, was in den Jahren 1933 bis 1945 tatsächlich passierte.
„Die Präsentation im Rahmen des bevorstehenden Historikertags hat noch eine zusätzliche Bedeutung“, sagt Buch-Professor Siegfried Lokatis, der die neue Ausstellung initiiert hat. „Der ‚Erfinder‘ und prägende Gestalter dieser Schwarzen Reihe (die sich mit ihren bedeutenden Veröffentlichungen ihrerseits in die deutsche Zeitgeschichte eingeschrieben hat), Prof. Dr. Walter Pehle, ist über Jahrzehnte hinweg so etwas wie der Sprecher der jeweiligen Verlagsausstellungen zum Historikertag gewesen.
Er ist vor kurzem verstorben. Die Ausstellung hat insofern auch den Nebensinn, seiner in diesem Zusammenhang zu gedenken, und ich bin mir sicher, dass die etwa 60 Verlags-Aussteller es sehr zu schätzen wissen, wenn dieser Ort mit dieser Würdigung an Walter Pehle erinnert.“
Und der Historikerkongress findet quasi gleich nebenan – im Hörsaalgebäude der Universität Leipzig – statt.
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Keine Autokorrektur für Überschriften? Nicht dass das was überkocht. Ansonsten: Fragile Forschung & Forscher.