Es ist 08:41 Uhr. Auf dem Friedhof an der St. Paul’s Chapel ist es friedlich. So friedlich wie es an einem betriebsamen Morgen in New York sein kann. Die Stadt lärmt im Hintergrund. Niemand ahnt hier, was in fĂĽnf Minuten geschehen wird. Es ist genau dieser Moment, der Yadegar Asisi seit ĂĽber zehn Jahren umtreibt. Und der jetzt einlädt ins Panometer Leipzig ins neue Panorama „New York 9/11“.
„Krieg in Zeiten von Frieden“ ist der Untertitel der neuen Panorama-Ausstellung, die man diesmal tatsächlich auf dem Weg durch die Ausstellung betreten muss, mit der auf das eigentliche Panorama-Bild hingeführt wird. Eine Art Zeitreise aus dem Jetzt 21 Jahre in die Vergangenheit, auf der das Asisi-Team zeigt, was aus jenem 11. September 2001 und aus den zeitnah folgenden Beschlüssen des damaligen amerikanischen Präsidenten George W. Bush und seiner Verbündeten geworden ist.
Etwas, was Yadegar Asisi bis heute aufregt. Denn die Erinnerung an die über 3.000 Menschen, die am 11. September 2001 bei den Anschlägen auf die Zwillingstürme des World Trade Centers ums Leben kamen, ist das eine – doch der daraufhin ausgerufene „Krieg gegen den Terror“ hat sich längst als Zündfunke für noch mehr Leid und Terror entpuppt. Für Asisi ist es der falscheste Satz, der gesagt wurde: „Krieg gegen den Terror“.
Und seine damalige Zusammenarbeit mit Daniel Libeskind bei der Neugestaltung der World Trade Center Site („Ground Zero“) war ja letztlich der Zündfunke für Asisis Panporamen – insbesondere der Reihe von Panoramen, in denen sich der Künstler mit dem Krieg und seinen Folgen beschäftigt.
Denn der Krieg formt und prägt die Menschen. Er hat sich tief in das Gedächtnis der Städte eingebrannt, was Asisi schon mit seinen großen Panoramen „Dresden 1945“, „Leipzig 1813“ und „Die Mauer“ in Berlin thematisierte. Ein unüberwindbares Mauer-Segment wird man auch in der Ausstellung „New York 9/11“ finden, denn seitdem ist es wieder normal geworden, dass weltweit Mauern und Zäune gebaut werden.
Politiker nehmen sich ganz unverfroren das Recht, Menschen durch Mauern voneinander zu trennen, ein- und auszusperren und zu bestimmen, welches Stück Land wozu gehört.
Wenn Asisi über das spricht, was ihn seit 20 Jahren bei seinen Panoramen umtreibt, die sich – direkt und indirekt – mit dem Krieg beschäftigen, merkt man, wie ihn das aufwühlt. Immerhin ist es ein Teil seiner eigenen Geschichte als Sohn eines Iraners, der ermordet wurde.
Seine Mutter musste mit der kleinen Familie fliehen und gelangte über Wien nach Leipzig, wo Yadegar Asisi dann aufwuchs und wo er sich heute noch als echter Sachse empfindet. Hier begegnete er der Geschichte der Völkerschlacht, die für ihn symptomatisch zeigt, was da seit 200 Jahren falschläuft.
„Wer Napoleon an den Anfang von Europa setzt, macht schon einen schweren Fehler“, sagt er.
Und hat recht. Denn genau das verkörpert Napoleon wie all die Kriegsherren, die ihm folgten: die Anmaßung, Ländergrenzen verschieben zu dürfen, die eigenen Vorstellung von der Welt anderen Völkern aufzwingen zu können.
Genau das, was jetzt auch im Ukraine-Krieg sichtbar wird, dessen Anstifter man nicht versteht, wenn man das imperiale (und damit napoleonische) Denken nicht sieht, das ihn umtreibt. Diesen ewigen Napoleons ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker egal, sind auch die eigenen Soldaten egal, die sie in ihren Kriegen verheizen.
Das Leid der Frauen und Kinder sowieso.
Und dass das wie ein Roter Faden durch die vergangenen 21 Jahre läuft, zeigt die Ausstellung zu „New York 9/11“, in der der Boden übersät ist mit Kreidestrichen, die für all die Menschen stehen, die nach heutigen Schätzungen im „Krieg gegen den Terror“ ihr Leben ließen – wahrscheinlich 900.000 und mehr. Nur elf dieser Schicksale können in der Ausstellung erzählt werden.
Eine Installation verkörpert für Asisi das eigentlich Fatale an der Entwicklung: ein Wohnzimmer, wie es in Millionen Wohnungen weltweit steht, mit der Couch vor dem Fernseher, über den der Krieg direkt ins Wohnzimmer kommt.
Und natürlich auch die Rede eines US-Präsidenten, mit der er den „Krieg gegen den Terror“ einleitete und den die anwesenden Claqueure damals beklatschten. Was Asisi bis heute nicht versteht, emotional nicht versteht.
Auch wenn die Logik dahinter nur zu klar ist. Auch die großen Kriegsherren haben ihre Logik. Die aber nichts mit der Logik der friedlichen Menschen zu tun hat, deren Städte dann auf einmal bombardiert werden, deren Schulen und Krankenhäuser zum Ziel von Raketen und Bomben werden. Was auf riesigen Video-Säulen zu sehen ist, sind nicht die zerstörten Städte in der Ukraine, sondern die des Nahen Ostens.
Der Krieg ist allgegenwärtig. Nur die meisten Kriege sehen wir nicht, betont Yadegar Asisi. Sie sind zu weit weg, finden zwischen Ländern statt, die europäische Nachrichtenagenturen nicht wirklich interessieren. Die Ukraine aber zeigt, wie schnell uns der Krieg mit den modernsten Vernichtungswaffen wieder nah sein kann. Und dass es dazu nur den Entschluss eines einsamen Mannes braucht, der meint, mit so einer Militäraktion seine eigene imperiale Vorstellung verwirklichen zu können.
Mit 9/11 verknüpft wird deutlich, dass es auch im Westen nur wenige Männer waren, die über Krieg und Frieden entschieden. Und zu Recht stellt sich Asisi die Frage, ob wir da nicht alle in falschen Strukturen leben, wenn es überall nur eine Handvoll Männer sind, die über den Krieg entscheiden können.
Die Folgen müssen alle tragen, die daran beteiligt sind, die ihre Nächsten verlieren, ihre Heimat, die Angst und Traumata erleiden. „Ein einziger Schuss hat den Ersten Weltkrieg ausgelöst“, sagt er. Und sieht trotzdem, dass die Entscheidungskette, die dieser Schuss ausgelöst hat, nach normalen menschlichen Maßstäben nicht zu begreifen ist.
Nichts an diesem Schuss auf den österreichischen Thronfolger musste in einen Krieg münden. Aber trotzdem nahmen es eine Handvoll Männer zum Anlass, den mörderischsten Krieg der Neuzeit auszulösen, der auch für Mitteleuropa eine lange Zeit des Friedens mit blutiger Grausamkeit beendete.
„Und wir denken noch heute an diesen Krieg“, sagt Asisi. „Obwohl das 100 Jahre her ist.“ Wie lange brauche es also, bis so ein Krieg von den nachfolgenden Generationen überwunden ist, seelisch bewältigt? 70 Jahre sind augenscheinlich nicht genug Zeit, sagt Asisi mit Verweis auf den Zweiten Weltkrieg.
Und natürlich fragt er sich, wie viel Zorn, Wut und traumatisches Erinnern all die Kriege im „Krieg gegen den Terror“ hinterlassen und wie lange die betroffenen Völker daran zu tragen haben. Was bedeutet das für den Frieden in der Welt? Oder bedeutet das weitere Terrorakte, weitere Kriege und Bürgerkriege, weil die Wunden nicht verheilt sind?
Man merkt schnell, dass auch das Motiv von „New York 9/11“ lange in Asisi gegärt hat und dass ihn gerade deshalb der Moment des Einschlags des ersten Flugzeugs und die nachfolgende Dramatik überhaupt nicht interessiert haben. „Die Bilder haben wir alle Kopf. Die kommen von allein“, sagt er.
Und recht hat er. Denn genau das passiert, wenn man nach dem Gang durch die Ausstellung in die große Rotunde tritt und auf einmal in einem New York steht, das noch nichts davon weiß, was in 5 Minuten passieren wird. Die beiden Zwillingstürme stehen noch hellerleuchtet im blauen Himmel. Autos lärmen, ab und zu eine Sirene, Menschen murmeln.
Eigentlich steht man unter den Bäumen des Friedhofs der St. Pauls Chapel, die den Einsturz der Zwillingstürme unbeschadet überstanden hat und nach dem Anschlag zum Stützpunkt der Helfer wurde.
Ringsum stehen die ältesten Grabsteine New Yorks, einige aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Hinter dem Zaun brodelt das Leben, sind die New Yorker geschäftig, wie sie es jeden Tag sind. Eine Stadt in ihrem hektischen Frieden, wie ihn so viele Städte auf der Erde jeden Tag erleben.
Ein Frieden, den man kaum würdigt, weil es so normal ist, dass man zur Arbeit eilt, unterwegs telefoniert, auf Bus oder Bahn wartet. Da schaut man auch nicht nach oben, wo man die Hochhäuser in der Sonne glänzen sehen würde, denn das ist ja das gewohnte Bild. Nichts Besonderes.
Und dann ein dumpfes Pochen … doch statt jetzt die Tragödie beginnen zu lassen, lässt Asisi das Licht wieder angehen und die Besucher im Panometer die geschäftige Friedlichkeit der großen Stadt erleben, die in den vergangenen Jahren akribisch rekonstruiert wurde, sodass der Blick, den das Panorama bietet, dem Blick vom Morgen des 11. September 2001 wohl ziemlich nahekommt.
Und wer das Panometer besucht, ist auf einmal selbst Teil dieses Bildes. Da staunte selbst Asisi, als er am Freitag die Presseleute in der Rotunde begrüßte. So viele Menschen hatte er in diesem Panorama-Bild noch nie. Und auf einmal wirkte es wirklich, als wären all die Fotografen und Journalistinnen Teil dieses sonnigen New Yorker Morgens, der so bald zu einem historischen Datum werden sollte, bei dem sich fast jeder weltweit daran erinnern kann, was er in dem Moment gerade tat, als die Bilder aus New York über den Bildschirm flimmerten.
So wird Asisis neues Bild zu einem geradezu atemberaubenden Statement für den Frieden. Und zu einer sehr ernsthaften Beschäftigung mit den Kriegen und den Kriegsmachern unserer Zeit.
Yadegar Asisi: „Wenn man auf diese Stadt schaut und weiß, dass sich in den nächsten fünf Minuten die Welt verändern wird – das ist überall und jederzeit gültig. Dieses absolute Gefühl, von jetzt auf gleich kann alles vorbei sein.“
Ab dem heutigen 9. April kann das neue Panorama „New York 9/11“ im Panometer Leipzig besichtigt werden.
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