Die Epitaphien der 1968 gesprengten Leipziger Universitätskirche St. Pauli sind zum Teil nur fragmentarisch erhalten, gelegentlich tauchen jedoch Einzelstücke wieder auf. Denn ihre Bergung in einer Nacht-und-Nebel-Aktion bedingte nicht nur etliche Zerstörungen an den alten Kunstwerken, sie wurden ja auch über Jahrzehnte nur provisorisch gelagert. Was dann auch zuweilen überraschende Entdeckungen ermöglicht.
Im letzten Jahr entdeckte Prof. Dr. Rudolf Hiller von Gaertringen, Leiter der Kustodie der Universität Leipzig, per Zufall das verschollen geglaubte linke Rahmenfragment des Carpzov-Epitaphs aus dem Jahr 1653 bei Recherchen zu einem anderen Projekt in der Objektdatenbank des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig. Dank der unbürokratischen Zusammenarbeit mit dem Museum konnte das Fragment nun an die Kustodie zurückgeführt werden. Die wiedervereinten, originalen Rahmenhälften wurden jüngst am Epitaph angebracht.Im Jahr 2002 begann die Bestandserfassung der aus der Universitätskirche geretteten und über Jahre eingelagerten Epitaphteile, die neu sortiert und den jeweiligen Objekten zugeordnet werden konnten. Zwei wesentliche Elemente am Carpzov-Epitaph galten aber zu diesem Zeitpunkt als verschollen: das Bildnis Carpzovs, das als Kopie ergänzt wurde, sowie die linke Hälfte der Rahmeneinfassung des Porträts seiner ersten Ehefrau Regina Carpzov, geb. von Clausbruch. Im Zuge der Restaurierung 2009 wurde daher eine holzsichtig belassene, zur rechten Rahmenarchitektur gespiegelte Nachbildung angefertigt und am Epitaph montiert.
„Benedikt Carpzov d. J. (1595–1666) selbst hatte das Epitaph 1653, also 15 Jahre vor seinem Tod, für sich und seine beiden Ehefrauen in Auftrag gegeben. Carpzov war einer der einflussreichsten deutschen Strafrechtswissenschaftler in der Frühen Neuzeit“, sagt der Kustos der Universität Leipzig, Prof. Dr. Rudolf Hiller von Gaertringen. „Der Universität Leipzig war er als Student der Rechtswissenschaften und durch seine langjährige Tätigkeit als Ordinarius der Juristenfakultät verbunden. 1666 wurde er in der Universitätskirche bestattet.“
Carpzov und die Leipziger Hexenprozesse
Eine Aussage, die dringend ergänzt werden muss. Auf Wikipedia heißt es zu Carpzovs Rolle in den Hexenprozessen im frühen 17. Jahrhundert: „In Prozessen gegen Hexen, an deren Existenz Carpzov nicht zweifelte, werden ihm eine Vielzahl von Todesurteilen nachgesagt. Allerdings ist die Quellenlage schwierig. Carpzov als Einzelperson kann die Erlassung einzelner Todesurteile, weder in Bezug auf das Hexereidelikt noch anderer Verbrechen, nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, da alle Sprüche des Schöffenkollegiums nach außen hin als gemeinsame Entscheidung ergingen. Dennoch wird Carpzov bis heute eine theoretische Befürwortung der Hexenverfolgung nachgesagt.“
Was ihm dann auch einen zentralen Platz auf der Website zu den Leipziger Hexenverfolgungen einbringt. Denn ohne die juristischen Begründungen waren diese Prozesse nicht denkbar. Auf der Website heißt es entsprechend: „Carpzov vertritt den hoch differenzierten Hexereibegriff, wie er im Hexenhammer (1486) entfaltet wurde. Mehr noch – er legt einen Schwerpunkt auf den Nachweis der Realität von Hexenflug und Hexensabbat. Im Zentrum des Hexerei-Deliktes stehen für Carpzov der Gebrauch teuflischer Künste und der Schadenszauber an Mensch und Tier.“
Alter Professor verdrängt hingerichteten Widerstandskämpfer
2001 kehrte Carpzov sogar wieder ins Leipziger Straßenbild zurück. Seit 1911 war eine Straße in Reudnitz-Thonberg nach ihm benannt. 1958 wurde die Straße nach dem 1945 in Dresden hingerichteten Widerstandskämpfer Walter Heise benannt. 2001 gab es die Rolle rückwärts und wurde wieder Carpzovstraße auf die Straßenschilder geschrieben. Was ins Bild der Stadt der Nach-„Wende“-Zeit passt: Man kehrte wieder zu einer elitären Straßenbenennung zurück, bei der längst vergessene Professoren wieder zu Ehren kamen, die für die meisten Leipziger/-innen keine Rolle spielen, aber im Selbstverständnis eines konservativen Bürgertums. Das dann auch keine Probleme mit den abergläubischen Vorstellungen des zu seiner Zeit wirksamen Jura-Professors hat.
Zu Walter Heise heißt es übrigens auf der Website der Stadt Leipzig: „Walter Heise: geb. 08.09.1899 in Aschersleben, hinger. 08.02.1945 in Dresden; Mitglied der KPD. 1924 nach Leipzig gezogen engagierte er sich in der Erwerbslosenbewegung und im antifaschistischen Kampf in Probstheida und Stötteritz. 1932 führte er eine große Demonstration von Arbeitslosen durch die Leipziger Innenstadt, eine Abordnung mit Heise wurde von Oberbürgermeister Goerdeler empfangen. Wegen Widerstands gegen die NS-Diktatur Verurteilung zu zwei Jahren und neun Monaten Zuchthaus, anschließend Fortsetzung der illegalen Arbeit. Wegen einer angeblichen Nichtabgabe eines Flugblattes wurde er wegen „Rückfall zum Hochverrat“ zum Tode verurteilt.“
Man hat also auch das Epitaph eines Leipziger Universitätsprofessors vor sich, dessen Wirken aus heutiger Perspektive sehr umstritten ist.
Die Ergänzung des Epitaphs
Das 79 cm hohe und 30 cm breite Objekt wies vergleichsweise geringe Schäden auf und wurde nach der Rückführung einer schonenden Konservierung unterzogen. Die Abtrennung der Nachbildung und die erfolgreiche Wiederverleimung der originalen Rahmenhälften unterstützte Dipl.-Restaurator Johannes Schaefer aus Altenburg, der dem Epitaphienprojekt seit vielen Jahren verbunden ist.
Dass bei solchen Entdeckungen hin und wieder der Zufall eine Rolle spielt, unterstreicht Hiller von Gaertringen: „Die Entdeckung des Rahmenfragments war ein glücklicher Zufallstreffer, denn das Objekt war in der Datenbank des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig irrtümlich als Bestandteil des Fürstenstuhls der Thomaskirche klassifiziert worden. Die Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg und die wechselhafte Geschichte der meisten musealen Einrichtungen in der DDR-Zeit bedingten einen weitreichenden Wissensverlust über zahlreiche Sammlungsobjekte, der erst seit den 1990er Jahren schrittweise aufgearbeitet und gegebenenfalls korrigiert werden kann.“
Übergeben wurde das Rahmenfragment durch Michael Stephan, Leiter der zentralen Dokumentation des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig, an Claudia Nicolaisen-Luckenbach, Dipl.-Restauratorin für Gemälde und Skulpturen an der Kustodie.
„Wir sind froh, dass das Objekt den Weg zurückgefunden hat und sind dankbar für die gute Zusammenarbeit“, so der Kustos der Universität Leipzig, Hiller von Gaertringen.
Das Epitaph kann während der normalen Öffnungszeiten im Altarbereich des Paulinums – Aula und Universitätskirche St. Pauli – betrachtet werden. Aufgrund der aktuellen sächsischen Corona-Notfall-Verordnung ist der Raum jedoch mindestens bis einschließlich 9. Januar 2022 geschlossen.
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