Seit Donnerstag, 23. September, zeigt das Museum der bildenden Künste Leipzig (MdbK) die monumentale Installation „Internal Line“ von Chiharu Shiota. Die japanische Künstlerin verwandelt die große Terrasse im zweiten Obergeschoss des Museums in eine rote Welt aus Stoff und Licht. So filigran kann Kunst sein. Und das Museum beginnt damit eine ganze Reihe Blicke hinaus über den europäischen Tellerrand.

Chiharu Shiota ist für raumgreifende Arbeiten bekannt, die wie gigantische Gewebe anmuten. Darin verbindet sie Malerei und Zeichnung mit den Dimensionen des Räumlichen. Es entstehen Werke, die gleichsam in den Raum hineinschraffiert sind. Oft verdichten sich tausende einzelner Fäden – oder besser: Linien – zu organischen Strukturen. Diese können Schuhe, Boote, Kleider, Schlüssel oder Musikinstrumente umweben, die zu Bedeutungsträgern für das menschliche Wesen werden.

Shiotas Werke berühren zumeist zentrale Themen menschlicher Existenz. Ihre Grundfarben sind Rot, Schwarz und Weiß, denen sie kosmologische Bedeutung beimisst. In ihren „Bildern“ geht es unter anderem um das Sichtbarmachen von Erinnerung und Zeit, um menschliche Obsessionen, um das Gewicht von Herkunft und Tradition oder um die kreislaufartige Organisation der Natur. Dabei erzählt Shiota auch von eigenen Erfahrungen und Gefühlen.

Im Innern der Installation befinden sich überdimensionale Kleider, die wie Traumbilder aus den Fäden aufzusteigen scheinen. Kleidung bestimmt nicht allein die Identität, ebenso ist sie auch Schutzhülle. Bei Chiharu Shiota sind die überdimensionierten Textilien allerdings leer und werden damit zu Metaphern der Abwesenheit physischer Körper.

Die Hüllen erstarren zur surrealen Erinnerung an Realpräsenz und analogem Dasein. Flächen und Strukturen sind dabei durchlässig und fragil, sie sperren Blick und Berührung aus, sind im selben Augenblick Schutz und Gefängnis.

Chiharu Shiota, Internal Line, 2019, Installationsansicht MdbK 2021, © VG Bild-Kunst Bonn, 2021, und Künstlerin, Foto: PUNCTUM/A. Schmidt
Chiharu Shiota, Internal Line, 2019, Installationsansicht MdbK 2021, © VG Bild-Kunst Bonn, 2021, und Künstlerin, Foto: PUNCTUM / A. Schmidt

„Internal Line“ kreist jedoch nicht nur um das Physische als Abwesendes. Vielmehr erlaubt die Installation ambivalente Assoziationen. So referiert sie auch auf eine Haltung, die besagt, dass bestimmte Menschen einander durch unsichtbare Fäden verbunden sind, und dass sich Gefühle und Gedanken gleichsam über innere Linien berühren können. Menschen sind fähig, Bindungen zu produzieren, indem sie einander Nähe schenken.

Wie würden solche Verbindungen aber aussehen, könnten wir sie tatsächlich anschauen? Shiota lässt dafür ein starkes Bild vom Gedankengeflecht, von Miteinander und von Nähe entstehen. Der rote Farbklang verweist auf den Energiefluss, der zwischen Individuen beginnt, wenn diese miteinander verbunden sind und vielleicht sogar gemeinsame Erinnerungen produzieren.

Die in Berlin lebende Künstlerin Chiharu Shiota bespielte 2015 den japanischen Pavillon auf der Biennale in Venedig. Ihre Werke werden international ausgestellt, u. a. im MoMA PS 1, dem Mori Art Museum in Tokio sowie im ZKM Karlsruhe. Shiotas Schaffen umfasst neben Installationen auch Skulpturen, Videoperformances und Bühnenbilder für Theater- und Opernproduktionen. „Internal Line“ war 2019/2020 im Japan House in São Paulo ausgestellt. Die Installation wurde von der Künstlerin extra für das MdbK adaptiert und ist jetzt erstmals in Europa zu sehen.

Das MdbK eröffnet mit „Internal Line“ eine neue Reihe, bei der in regelmäßigem Wechsel bedeutende Positionen der internationalen, zuweilen außereuropäischen Gegenwartskunst in Leipzig vorgestellt werden. Ein Schwerpunkt wird auf skulpturalen Impulsen liegen, die auf den Terrassen des Museums inszeniert werden und so der hiesigen Sammlung gegenübertreten können.

Chiharu Shiota „Internal Line“ ist im Museum der bildenden Künste bis zum 27. März 2022 zu sehen.

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