Ab September bis Anfang Mรคrz blickt das Stadtgeschichtliche Museum in einen Abschnitt in Leipzigs Historie, der die Stadt bis heute nachprรคgt; das Industriezeitalter. Noch heute stehen viele alte Fabrikgebรคude, diskutieren engagierte Menschen รผber den Erhalt von Architektur aus der Grรผnderzeit. Wie aus einer betulichen Handelsstadt mit Spreewaldflair Anfang des 19. Jahrhunderts eine mit einem dichten Netz aus Kanalisation, Straรen, Schienen und dichtem Bestand aus qualmenden Schloten umgekrempelt wurde, und auch wie dieses Bild Ende 1989 begann, sich zumindest teilweise aufzulรถsen, beleuchtet die aktuelle Ausstellung โWerkStadt Leipzig. 200 Jahre im Takt der Maschinenโ.
Die von England ausgehende industrielle Revolution mit der Erfindung der Dampfmaschine und dem Wechsel vom Manufaktur- und Handwerkwesen zur dampf- und kohlenangetriebenen Industrieproduktion lieร auch in Leipzig eine vielseitige Industrie entwickeln: Schrittmacher war, wie zunรคchst auch in England, die Textilindustrie. Die erste Leipziger Dampfmaschine wurde 1830 in seiner Kammgarnspinnerei fรผr die damals neuartigen Spinnmaschinen eingesetzt. Auch Werke des Maschinenbaus, der Musikinstrumenten- und Musikautomatenhersteller, des frรผhen Automobilbaus, Rundfunk- und Messinstrumentenbaus sowie die Kohlechemie prรคgten die Struktur der Stadt. Die Industrie wurde Hauptarbeitgeber. Neue Berufe entstanden. Auch neue Produkte.
In den รถstlichen Stadtteilen siedelten sich, etwa im Graphischen Viertel, nicht nur Verlage an. Auch Buchhersteller und Fabriken fรผr Druck- und Buchbindereitechnik fanden in der einstigen Leipziger Altstadt hier ihr Domizil. Schnell wuchsen in den umliegenden Vororten und Dรถrfern im heutigen Leipziger Westen die Fabriken. Die Entwicklung ging so rasant vonstatten, dass die Industrie auch den Stรคdtebau beeinflusste. Um den neu entwickelten Ortskernen mit ihren Dorfkirchen wurden Straรen neu gezogen und die dabei entstandenen Karrees mit den heute noch so stadtbildprรคgenden Grรผnderzeithรคusern mit ihren Hinterhofhandwerksbetrieben und Manufakturbetrieben gefรผllt.
So wuchs die Stadt zusammen, etwas unkontrolliert zwar, aber innerhalb von 70 Jahren wechselte Leipzig sein Gesicht von einer Fachwerkhaus bestandenen barocken Bรผrger- und Handelsstadt, wo sonst Gasthรถfe, Kneipen und Gaststuben das Straรenbild in der heutigen City prรคgten, zu einer industriell geprรคgten Groรstadt. Wรคren die beiden Weltkriege nicht gewesen, die Entwicklung zur Millionenmetropole wรคre im 20. Jahrhundert unaufhaltsam gewesen. Mit dem Einsatz der elektrischen Straรenbahn wurde 1923 die Frage der Stadtentwicklung รถffentlich diskutiert; hatte man in den 1880ern bis ca. 1910 โwildโ gebaut und Straรen lediglich als Versorgungs- Wirtschaftsidee- und Sicherheitsstrecken gesehen, so bekam die Straรe als privat genutzter Verkehrsweg mit Straรenbahnen und Automobilen eine neue Bedeutung.
1923 wurde jedenfalls die Verkehrswegeplanung als โMurksโ bezeichnet. Wohingegen der Grรผndervater der Sรคchsischen Denkmalpflege, Cornelius Gurlitt sen., schon 1894 das Aussehen und Stillosigkeit der damals schnell errichteten Mietzinshรคuser als รคsthetische Entgleisung empfand, die man besser schnell wieder abreiรen mรผsse. Heute pochen der Denkmalschutz und Stadtplaner auf den Erhalt des wilden Stilmixes an Leipzigs Straรen und plรคdiert fรผr die Beibehaltung der vor hundert Jahren als โvermurkstโ angesehen Kataster. Nicht nur Leipziger leben heute in einem Industriemuseum unter der Glocke von wuchernden Verordnungen und Gesetzen.
Auch der blutige Aspekt des Kolonialismus schwingt mit der Grรผndung der Leipziger Baumwollspinnerei 1884 mit. Aus Deutsch-Ostafrika wurden die Baumwollballen u. a. direkt nach Leipzig geliefert und zu Kleidung und Stoffen verarbeitet. Das Beispiel verdeutlicht auch, auf welchen Rรผcken Fortschrittsglรคubigkeit und Zukunftshรถrigkeit ausgetragen wurden, und auch innerhalb der globalisierten Marktwirtschaft noch ausgetragen wird.

Auch Verdrรคngungsprozesse setzten ein. Gerade das Beispiel der Leipziger Schlossereibetriebe, die bis Mitte des 19. Jahrhunderts noch als Monopolisten auf dem Markt galten wenn es um die Herstellung von Gittern, Zรคunen, Schlรผsseln, Schlรถssern, Griffen etc. ging, zeigt deutlich den Niedergang bzw. die Verdrรคngung des manufakturbetriebenen Handwerks in Leipzig zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch industriell gefertigte Normteile.
Der damalige Schlosserinnungsvorsitzende, und auch Ratsabgeordnete, Gottfried Alfred Thalheim (1858โ1933), selbst seit 1904 Eigentรผmer einer von seinem Vater 1856 gegrรผndeten Kunst- und Bauschlosserei in Leipzig-Reudnitz und spรคter von 1918 bis 1933 Handwerkskammerprรคsident in Leipzig, empfahl seinen Innungsmitgliedern die Spezialisierung, um auf dem freien Markt รผberleben zu kรถnnen. Er selbst stellte Museumsschrรคnke und Museumsmรถbel aus Blech und Eisen her, schuf aber auch Gitter und Zรคune u. a. fรผr das Gebรคude der heutigen Handwerkskammer. Ironie dabei, auch Thalheim griff auf industriell vorgefertigte Einzelteile zurรผck. Sie waren bei der Anschaffung einfach billiger.
Die Ausstellung will das Sรคchsische Jahr der Industriekultur zum Anlass nehmen, um rรผckblickend Produkte und Leistungen ausgewรคhlter Firmen im Kontext der Stadtentwicklung zu beleuchten. Gezeigt wird aber auch der Einfluss der maschinenbetriebenen Moderne auf das Leben der arbeitenden Menschen. Die Ausstellung mรถchte exemplarisch die Geschichte einzelner Branchen vorstellen, die sich teils รผber mehr als 150 Jahre mit bedeutenden Unternehmen hielten und auch noch tw. halten: Leipzig im Kรถnig- und Kaiserreich, in der Weimarer Zeit, in den Kriegen und natรผrlich auch in der DDR.
Darunter so weltmarktfรผhrende Namen wie Adolf Bleichert (spรคter VEB VTA/TAKRAF), Rudolph Sack (spรคter VEB Bodenbearbeitungsgerรคte/Amazone BBG) oder die im VEB Kombinat Polygraph zusammengefassten Firmen der Gebrรผder Brehmer und der Betrieb von Karl Krause spielen Rollen in der Ausstellung. Sie tauchen in sieben Abschnitten der Ausstellung auf und erzรคhlen so die wechselvolle Geschichte Leipzigs im Licht der maschinenangetriebenen Moderne. Die Ausstellung steht nicht nur still und stumm im Walde und lรคsst die Besucher vor Vitrinen zu Pagoden erstarren, nein; historische Betriebs- und Messefilme sowie abgefilmte Zeitzeugenberichte fรผllen das sonst so industrielle Gerรผst der Schau mit Leben aus.
In den Zeitzeugenberichten kommen u. a. der heutige Werksleiter und ehemalige Arbeiter des Plagwitzer Landtechnikherstellers BBG oder eine Textilarbeiterin der Baumwollspinnerei, ein ehemaliger Vertragsarbeiter aus Vietnam, der Chefdesigner des VEB Verlade- und Transportanlagen/TAKRAF sowie Abteilungsleiter und Ingenieure des VEB Polygraph und weiteren Firmen zu Wort.
Wem das nicht genug ist, um einen Einblick in die Industrie Leipzigs des 20. Jahrhunderts zu erhalten, der wird sicher bei den ausstellungsbegleitenden Kantinengesprรคchen zu einzelnen Betrieben, Bรผrsten-Roboter-Workshops oder Maschinenvorfรผhrungen vertiefende Perspektiven um die staatlichen Wohlfahrtsangebote der DDR-Betriebe und vieles mehr erhalten. So kann man direkt erfahren, wie Musikautomaten funktionieren, was ein Drahthefter macht, oder wie innovativ sich der legendรคre Elektrokarren โEidechseโ von 1923 lenken lieร.
Ab dem 9. September startet begleitend noch eine Schau im Kunstkraftwerk in Plagwitz; die multimediale Panorama-Schau โBOOMTOWN โ Leipziger Industriekulturโ. Sie setzt sich ebenfalls mit Leipzigs industrieller Geschichte zwischen 1840 und 1989 auseinander.
WerkStadt Leipzig.
200 Jahre im Takt der Maschinen
Sonderausstellung (02.09.2020 bis 07.03.2021) im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig im Rahmen des Jahres der Industriekultur Sachsen 2020
KURATORIN DER SONDERAUSSTELLUNG
Dr. Johanna Sรคnger
Die neue Leipziger Zeitung Nr. 82: Groรe Anspannung und Bewegte Bรผrger
Die neue Leipziger Zeitung Nr. 82: Groรe Anspannung und Bewegte Bรผrger
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