Unsere Wahrnehmung auf Chemnitz ist doch die: Industriestadt, DDR-Neubaugebiete und der „Nischel“, der der Stadt in DDR-Zeiten den Namen gab – Karl-Marx-Stadt. Hoch oben neben der Stadt erhebt sich die rote Burg des ehemaligen Gefängnisses Hoheneck, in der Stadt selbst liegt das Kaßberg-Gefängnis. Von dort wurden inhaftierte Ausreisewillige von der BRD freigekauft. Besonders hier hat das 20. Jahrhundert seine Wunden geschlagen.
Die drittgrößte Stadt Sachsens scheint in den vergangenen Jahren in den Hintergrund gedrängt zu sein. Seit Mitte August legt eine Ausstellung im öffentlichen Raum den Finger in die noch verheilenden Wunden und verdeutlicht – Chemnitz ist auch wegen seines historischen und kulturellen Reichtums cool. „Gegenwarten/Presences“ ist bis Ende Oktober Gesprächsstoff.
Eine öffentliche Ausstellung von Kunstwerken in dieser Form ist schon ungewöhnlich. An verschiedenen Plätzen und Orten in Chemnitz nimmt plötzlich eine Lichtinstallation von Patricia Kaersenhout Raum ein, oder in einer Parkanlage schlängelt sich ein überdimensionaler „Darm“ durch die Landschaft, eine Arbeit von Anetta Mona Chişa & Lucia Tkáčová.
Hinter dieser Idee stecken die beiden Kuratoren Florian Matzner und Sarah Sigmund und die Kunstsammlungen Chemnitz und bildet eigenem Ermessen nach eine wichtige Etappe in der Bewerbung von Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas 2025. Ein Titel, um den sich aktuell vier weitere ostdeutsche Städte rangeln; Zittau, Magdeburg, Gera und Dresden. Im Herbst dieses Jahres fällt die endgültige Entscheidung, wer das Votum erhält. Neben diesen Städten haben sich aus Deutschland noch Hildesheim, Nürnberg und Hannover gemeldet.
Der Ausstellungstitel „Gegenwarten“ tritt durchaus mit einem philosophischen Impetus an uns heran. Der Titel konfrontiert uns mit dem Begriff von „Zeit“, mit unserem Bewusstsein wie wir unsere Gegenwart gestalten und wohin der Weg in die Zukunft geht. Neben der typischen Periodik der Natur kann man Zeit als Fluss sehen. Der Mensch ist weitaus weniger passiv als diese Sicht der Dinge impliziert. Er beeinflusst durch sein gestalterisches Eingreifen die Gegenwart und damit auch die Zukunft.
Wer geschichtswissenschaftliche Debatten wie „Wäre Hitler möglich gewesen, wenn…“ verfolgt, sieht, dass nur Nuancen von Handlungen und Zufällen nötig sind, welchen Kurs „Zeit“ in seinem Verlauf nimmt und welchen nicht. Genau auf diese Fragestellung richtet „Gegenwarten“ mit seinen über zwanzig künstlerischen Positionen seinen Fokus. Die Künstler/-innen nähern sich einzelnen Themenfeldern, die in unserer Gegenwart die Debatten beherrschen; Umwelt, Erderwärmung, Wirtschaft, Raum, Migration, Demokratie und Regression, die Veränderung der Arbeitswelten und die eigene Lebensrealität.
Haben wir nicht das Gefühl, die weltweite Covid-19-Pandemie ist ein Katalysator von bestimmten Entwicklungen? Wird das Home-Office das künftige Nonplusultra? Werden wir bald komplett in virtuelle Welten mithilfe von Visor-Helmen eintauchen, so virtuell durch digitale Arbeits- und Freizeitwelten wabern? Verlieren die klassischen Formen der Kultur- und Kunstvermittlung wegen den Abstands- und Hygieneregeln an Bedeutung?
Müssen bzw. brauchen wir künftig nicht persönliche Ausstellungen und Konzerte besuchen, sondern tauchen in diese gegen einen Bezahlwandobolus virtuell ein? Schon jetzt bemerken wir eine Veränderung im Bezahlwesen, wie wir einkaufen und wie wir unsere Dinge aus dem Internet besorgen. Natürlich ist die krisengeschüttelte Finanzwirtschaft auch diesen Änderungen unterworfen, gestaltet diese mit politischer Unterstützung sogar mit. Diese Entwicklung setzte schon vor der Pandemie ein, aber jetzt setzt eine Beschleunigung ein. Doch für was?
„Brave New World“, wo Demonstranten sich in virtuellen Räumen treffen und als Avatare gegen den „Staat“ kämpfen, wo die Meinungsfreiheit schon längst im Internet stattfindet, die klassische Demonstration wie aus der Zeit gefallen erscheint? Wo mediale Geschichtsverklitterung sich im medialen Raum als Computerspiel auflöst? Bald die nächste Rembrandt-Ausstellung virtuell erfahren werden kann, ohne dass man einen Fuß in den nächsten Zug setzen muss, Distanzen plötzlich auch in anderen Belangen keine Rollen mehr spielen, die Welt im digitalen Format noch näher zusammenrückt – ohne Infektionsrisiko.
Umso wichtiger ist die Botschaft von „Gegenwarten“: Kunst im öffentlichen Raum offenbart uns die versteckten Seiten einer geschichtsgeschüttelten Stadt zu entdecken, Gemeinsamkeiten mit anderen Städten in Europa aufzuzeigen, diese Gemeinsamkeiten zu verknüpfen. Vergessene als auch neue Geschichten werden erzählt. Kunst ist über die Präsentationsform hinaus in der Lage, diese verschiedenen Aspekte wie Kultur, Geschichte und menschliches Dasein sichtbar zu machen.
Denn wie sähe sonst die Frage nach einer alternativen Gegenwart aus; leergefegte Straßen und Menschen, die in Wohnungen auf Bildschirme oder in die virtuelle Zauberwelt mithilfe eines Helms starren, verbunden mit Online Banking, dem Job, der Familie, einem imaginären Zuhause, imaginären Freunden und imaginärer Kunst?
Künstler/-innen und Kollektive
atelier le balto, Nadja Buttendorf, Anetta Mona Chişa & Lucia Tkáčová, Else Gabriel, Shilpa Gupta, Patricia Kaersenhout, Klub Solitaer e. V., Mischa Kuball, Philip Kojo Metz, Henrike Naumann, Olaf Nicolai, Observatorium, Ooze Architects & Marjetica Potrč, Lydia Ourahmane, Peng! Collective, Roman Signer, Weltecho, Anna Witt, Tobias Zielony, ZONA D (Tita Salina & Irwan Ahmett, Franziska Gerth, Rodrigo Andreolli, Trakal, Gian Spina, Samuel Georgy, Areej Huniti, Anna Zett, Ki Hyun Park, Noor Abed, Felipe Steinberg, Beatrice Schuett Moumdjian, Jafar Al Jabi, Julia Kiehlmann, Yvonne Buchheim und Omnia Sabry)
GEGENWARTEN | PRESENCES Kunst Stadt Chemnitz
15. August bis 25. Oktober 2020 Öffentlicher Raum der Stadt Chemnitz
Die neue Leipziger Zeitung Nr. 82: Große Anspannung und Bewegte Bürger
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