LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 72, seit 25. Oktober im HandelAm 15. Oktober รถffnete im Grassi Museum fรผr Vรถlkerkunde in Leipzig eine neue Ausstellung. Sie nimmt Bezug auf Sammlungsobjekte des Museums und zeigt zugleich etwas anderes. Besser gesagt, das muslimische andere und das was kulturell und politisch รผber Jahrhunderte in Abwehrhaltung zum Islam aufgebaut wurde. โRe:Orient โ Die Erfindung des muslimischen Anderenโ hinterfragt unser Denken und unser Gefรผhl fรผr das vermeintlich Fremde.
Mitte Oktober nimmt der Herbst mit sommerlichen Temperaturen noch einmal Fahrt auf. Im Grassi Museum fรผr Vรถlkerkunde wรคrmt eine neue Ausstellung die Gemรผter. โRe:Orient โ Die Erfindung des muslimischen Anderenโ trรคgt schon im Titel, welche inhaltliche Aufladung die Besucher erwartet.
Die ehemalige Programmdirektorin des Jรผdischen Museums in Berlin und seit Februar Direktorin der Staatlichen Ethnografischen Sammlungen der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und Leiterin u. a. seines Leipziger Ablegers, dem Grassi Museum fรผr Vรถlkerkunde, Lรฉontine Meijer-van Mensch, sagt zur neuen Schau, dass man nicht nur Sammlungsobjekte aus dem orientalischen Raum ausstellen wolle.
Die eingangs prรคsentierten Dolche und andere kunsthandwerklich geschaffenen Objekte stรผnden fรผr eine romantisierende und nicht mehr zeitgemรครe Vorstellung des Islam. Schon in Berlin setzte sie mit ihren Ausstellungs- und Programmkonzepte neue Impulse.
In Leipzig leitet sie gemeinsam mit ihrem Projektleiter Kevin Breร und dem Kuratorenteam aus รzcan Karadeniz und Anna Sabel mit der Ausstellung โRe:Orientโ den Auftakt ein, wie das Leipziger Vรถlkerkundemuseum kรผnftig mit neuem Leben gefรผllt wird.
Eine hinterfragende Ausstellung
โPost-koloniale Kritik ist fรผr uns als Museum wichtigโ, sagt Lรฉontine Meijer-van Mensch zu โRe:Orientโ. Aufgabe eines Museums wie das ihre solle nicht nur sein, zurรผckzuschauen, sondern auch in die Zukunft. Dazu mรผsse man sich im Hier und Jetzt verorten, um nicht nur eine reine Sammlungsprรคsenz zu zeigen. So gesehen ist โRe:Orientโ ihr zufolge nicht nur eine Neuorientierung der Orientalismussammlung sondern auch die des Vรถlkerkundemuseums.
โMir war klar, dass wir als Haus so eine Ausstellung wie Re:Orient nicht machen kรถnnenโ, begrรผndet die Leiterin der ethnologischen Sammlungen in Leipzig die Entscheidung den Blick von Auรen nach Innen zu holen. โRe:Orientโ ist so der Auftakt fรผr eine Neuausrichtung des Vรถlkerkundemuseums ab 2023. Das Museum wird โ รคhnlich wie Alfred Weidinger das MdbK derzeit noch fรผhrt โ verstรคrkt mit auswรคrtigen Kurator/-innen zusammenarbeiten.
Sammlungsobjekte werden in neue Kontexte gestellt, nicht mehr nur zur Schau gestellt. โRe:Orientโ sei somit ein neuer Ansatz und setze neue Impulse, so Lรฉontine Meijer-van Mensch weiter. Denn fรผr das Vรถlkerkundliche Museum ist die aktuelle Ausstellung eine Neuorientierung der eigenen Sammlung. Gleichzeitig wird das Museum insgesamt in neue Bedeutungen gestellt, fรผr das 21. Jahrhundert justiert.
Das Kuratorenpaar รzcan Karadeniz und Anna Sabel bekrรคftigt, dass โRe:Orientโ mit seinen drei Abschnitten nicht den Islam vorstellen will, sondern kritisch beรคugt, was wir in Europa รผber den Islam vermittelt bekommen haben. Diese Vorstellungen mรผnden in รngste, dass โdas Abendland islamisiertโ wรผrde.
Dieser Slogan taucht seit einigen Jahren in rechtsextremen Kreisen als Kulisse auf, um vor einer drohenden รbernahme Deutschlands von Muslim/-innen zu warnen, die mit fliegenden Teppichen, betรถrenden Aromen und Dรผften sowie gezรผckten Sรคbeln den sauerkrautgeschwรคngerten Brodem einer ebenso kulturell und geschichtlich heterogen entstandenen Nationalstaatlichkeit hinwegfegen wollen.
Wider das Vorurteil
Vieles von dem, was รผber den Islam kursiert, ist entweder aus falschen Vorstellungen darรผber entwachsen, oder versucht den Status von Migranten zu diskreditieren. โRe:Orientโ gibt keine Antwort darauf, was der Islam ist und wie er gesehen werden sollte. Die Ausstellung beleuchtet v. a. im letzten Abschnitt am Beispiel der lange von Behรถrden verschwiegenen NSU-Morde auch, wie sehr auch verallgemeinerndes Denken politisch und medial gelenkt werden kann.
รzcan Karadeniz und Anna Sabel, beide vom Verband binationaler Familien und Partnerschaften e. V. in Leipzig, konzipierten die Ausstellung so, dass wir von den รผberkommenen und romantisierenden Vorstellungen des islamischen Kulturkreises zu konstruierten Vorurteilen in die Dystopie der Ausgrenzung und Verfolgung von โorientalisch aussehendenโ Menschen gleiten.
Dass die โAblehnungโ des Islam in Europa eine weitere, historische, Bedeutungsebene besitzt, flieรt die Ausstellung im Subtext ein. Vieles von dem, was Europรคer im Islam als archaisch und kriegerisch ansehen, wurzelt in den ersten islamischen Eroberungszรผgen gegenรผber des christlichen Byzantinischen Reiches im 7. Jahrhundert.
Schon damals wurden Muslime als Sendboten des Teufels propagiert, ein Stigma, das im 11. und 12. Jahrhundert durch zunรคchst normannische Kreuzzรผgler bedient wurde, um die eigenen Raubzรผge und Landnahmen zu rechtfertigen. Weitere Herabsetzungen des Islam geschahen wรคhrend der Kriege des Habsburgerreiches, bzw. Heiligen Rรถmischen Reiches Deutscher Nation im 17. Jahrhundert, wovon nur Mokka und der Teighalbmond รผbrig geblieben sind.
Herabsetzend ist auch eine noch heute weit verbreitete Haltung europรคischer Historiker gegenรผber der arabischen Geschichtsschreibung, die als โMรคrchenโ abgetan wird. Bezeichnend ist aber auch, dass das Deutsche Reich im Vorfeld des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich einen Verbรผndeten suchte; fรผr wirtschaftliche und politische Interessen, die sich gegen die Interessen Groรbritanniens und Frankreichs in Palรคstina richteten.
โRe:Orientโ will mehr: anhand von kรผnstlerischen Arbeiten zeitgenรถssischer Kรผnstler verdeutlichen, wie aufgrund von Vorurteilen und Gegensรคtzen Menschen miteinander umgehen und so blind fรผr die gemeinsamen Eigenschaften sind; in erster Linie steht die Menschlichkeit.
Re:Orient โ Die Erfindung des muslimischen Anderen
16.10.2019 bis 19.01.2020 (wird voraussichtlich verlรคngert)
Grassi Museum fรผr Vรถlkerkunde zu Leipzig
Johannisplatz 5โ11
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Ans Licht geholt: Warum Leipzig mit dem Bauhaus zu tun hat
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