Diese Tschechen! Sie haben uns schon immer gezeigt, wie das ist mit dem Mut und dem Anstand. Schon seit Jaroslav Haseks Schwejk. Und dann wieder 1968. Und 1977. Da taten sich in Prag ein paar mutige junge Menschen zusammen und schrieben eine Petition. Eigentlich wollten sie darin nur einfordern, was auch die tschechische Staatsspitze 1975 in Helsinki unterschrieben hatte. Und das hatte Folgen. Auch fรผr die Bรผrgerrechtsbewegung in der DDR.

Noch heute gilt die Charta 77 als Vorbild fรผr Zivilcourage und moralisches Handeln, fรผr die subversive Kraft von Kunst und Kultur, humane Gesellschaften zu befรถrdern, unabhรคngig vom politischen System.

Am heutigen Dienstag, 10. September, um 18 Uhr wird im Ausstellungsbau des Stadtgeschichtlichen Museums im BรถttchergรครŸchen die Ausstellung โ€žCharta 77. Die Storyโ€œ erรถffnet. Feierlich, mit Zeitzeugen und vielen Reden.

Dr. Johanna Sรคnger, die zusammen mit Zuzana Brikcius die Ausstellung in Leipzig kuratiert hat, wรผnscht sich sowieso, dass die Besucher lieber kommen, wenn sie ganz viel Zeit mitbringen. Denn die Ausstellung ist bilderreich. Die Geschichte der Charta 77 ist eine Geschichte mit vielen Bildern. Aber vor allem auch eine der Macht der Worte.

Die Ausstellung dokumentiert die Entstehung und Wirkung der berรผhmten tschechoslowakischen Protestbewegung anhand der Geschichte und Kunstwerke ihrer Unterzeichner und Mitbegrรผnder, darunter Ivan Martin Jirous, der fรผnfmal in kommunistischen Gefรคngnissen eingesperrte Dichter, Kunsthistoriker und Spiritus Agens des tschechischen Undergrounds, der Schriftsteller Vรกclav Havel und der Philosoph Jan Patoฤka, der Nobelpreistrรคger Jaroslav Seifert und viele andere.

Sie alle verband die moralische รœberzeugung, dass die Glaubwรผrdigkeit des tschechoslowakischen Staates darin bestehen mรผsse, die Prinzipien einzuhalten, zu denen er sich mit Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki 1975 selbst verpflichtete. Zentral war dabei die โ€žAchtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschlieรŸlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- und รœberzeugungsfreiheitโ€œ.

Dennoch kam es im August 1976 zur Inhaftierung der Underground-Band โ€žThe Plastic People of the Universeโ€œ, die sich staatlichen Auflagen verweigerte. Kurz darauf verรถffentlichten Jaroslav Seifert, die Philosophen Jan Patoฤka und Karel Kosรญk sowie die Schriftsteller Vรกclav Havel, Ivan Klรญma, Pavel Kohout und Ludvรญk Vaculรญk in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Brief an Heinrich Bรถll, in dem sie diesen um Unterstรผtzung fรผr die inhaftierten Musiker baten. Wenige Monate spรคter entstand daraus die Deklaration der Charta 77, die die Verletzungen der Grundrechte im kommunistischen Regime offen anprangerte.

Foto als Hochzeitsgeschenk an Anna Freimanovรก und Andrej Krob, Karlsbrรผcke in Prag, Anfang 1976.Foto: Ondล™ej Nฤ›mec
Foto als Hochzeitsgeschenk an Anna Freimanovรก
und Andrej Krob, Karlsbrรผcke in Prag, Anfang 1976.Foto: Ondล™ej Nฤ›mec

Bei ihrer Verรถffentlichung im Januar 1977 hatte die Charta 241 Unterzeichner, obgleich diese Verhaftungen, Verhรถren und Gefรคngnisstrafen ausgesetzt waren, zudem wurden mehr als 200 Unterzeichner im Laufe weniger Jahre zur Emigration gezwungen. Vรกclav Havel schildert die dennoch anhaltende Kraft der Charta 77 in seinem politischen Essay โ€žVersuch, in der Wahrheit zu lebenโ€œ als โ€žjenes plรถtzliche Gefรผhl, dass man nicht lรคnger warten kann und dass man gemeinsam und laut die Wahrheit sagen muss โ€“ ohne Rรผcksicht auf alle Sanktionen, die das nach sich ziehen wird; auch ohne Rรผcksicht darauf, dass die Hoffnung, damit in absehbarer Zeit irgendwelche sichtbaren Ergebnisse zu erreichen, sehr vage war.โ€œ

Die Initiative wuchs stetig an und blieb mit ihrer kreativen, ironischen und subversiven Wirkmacht wichtiger Bestandteil der Opposition bis November 1989, wo sie nahezu 1.900 Unterzeichner aufwies.

Ergรคnzend zur Ausstellung des Prager Nationalmuseums stellt das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig die Folgen der Charta 77 fรผr West- und Ostdeutschland bis zur Friedlichen Revolution von 1989 dar. Sie zeigt die Reaktionen in der Bundesrepublik sowie der DDR. GroรŸe Bedeutung hatte die tschechoslowakische Bรผrgerrechtsbewegung dort fรผr Oppositionsgruppen, die sich hรคufig unter dem Dach der Kirche sammelten. Neben Berlin war Leipzig ein Zentrum fรผr unangepasste Kunst und Protestbewegungen.

Dr. Johanna Sรคnger, Kuratorin des deutschen Ausstellungsteils, stellte heraus: โ€žDie Charta 77 machte den Menschen Mut, fรผr Wahrheit und Freiheit in ihrem Alltag einzustehen. Auch heute beeindruckt die Frรถhlichkeit ihrer Aktionen. Das macht neugierig auf ihre Geschichte.โ€œ

Und Zuzana Brikcius, Zeitzeugin, Autorin und Kuratorin der Ausstellung, betonte: โ€žAus eigener Erfahrung weiรŸ ich, dass die Freiheit jene am besten genieรŸen, die sie wรผrdigen kรถnnen!โ€œ

Haftfoto des VONS-Mitglieds Vรกclav Havel, 1979. Foto: Tschechisches Nationalarchiv
Haftfoto des VONS-Mitglieds Vรกclav Havel, 1979. Foto: Tschechisches Nationalarchiv

Offiziell erรถffnet wird die Ausstellung am heutigen Dienstag, 10. September, um 18 Uhr im Alten Rathaus in Leipzig durch die Leipziger Bรผrgermeisterin und Beigeordnete fรผr Kultur Dr. Skadi Jennicke und den Vize-Kulturminister der Tschechischen Republik Jiล™รญ Vzientek, in Anwesenheit des Botschafters Tomรกลก Podivรญnskรฝ und der Generalkonsulin Markรฉta Meissnerovรก. Aus Anlass der Erรถffnung hat Tomรกลก Karpรญลกek, herausragender tschechischer Kontrabassist, eigens das Stรผck โ€žFreiheitโ€œ komponiert, das er am Erรถffnungsabend mit dem Cellisten Vilรฉm Petras zur Urauffรผhrung bringt.

Die Ausstellung โ€žCharta 77 Storyโ€œ wird begleitet durch ein umfangreiches Rahmenprogramm. Bekannte tschechische und deutsche Zeitzeugen werden unter dem Titel โ€žCharta 77. Ein Protest und seine Wirkungโ€œ am 24. September รผber diese spannungsreiche Zeit diskutieren. AuรŸerdem gibt es zwei Filmvorfรผhrungen: Am 13.10.2019 wird der Film โ€žUฤitelโ€˜kaโ€œ (โ€žDie Lehrerinโ€œ) von Jan Hล™ebejk (2016) im Passage Kino gezeigt: Eine Lehrerin mit engen Verbindungen zur kommunistischen Partei zwingt Schรผler wie Eltern, sich fรผr eine politische Haltung zu entscheiden. Am 10.11.2019 folgt โ€žObฤan Havelโ€œ (โ€žBรผrger Havelโ€œ) von Pavel Kouteckรฝ (2008): Der Dokumentarfilm รผber Vรกclav Havel handelt von der Amtszeit des frรผheren tschechischen Prรคsidenten und gibt auch private Einblicke in dessen Leben.

Musiker Paul Wilson und Literaturkritiker und Herausgeber Jan Lopatkรก, 1976. Foto: Helena Wilsonovรก, Archiv von Jan Lopatkovรก
Musiker Paul Wilson und Literaturkritiker und Herausgeber Jan Lopatkรก, 1976. Foto: Helena Wilsonovรก, Archiv von Jan Lopatkovรก

Die nรคchsten Fรผhrungen in der Ausstellung:

Am Mittwoch, 11. September, fรผhrt um 17 Uhr die tschechische Kuratorin Zuzana Brikcius durch die Ausstellung. Sie ist eine Zeitzeugin, die mit 18 Jahren die Petition Charta 77 selbst unterzeichnete. Diese wurde im Januar 1977 verรถffentlicht und kritisierte Verletzungen von Bรผrger- und Menschenrechten durch das kommunistische Regime. Als Kรผnstlerin und Ehefrau des Philosophen und Erst-Unterzeichners der Charta Eugen Brikcius berichtet sie รผber ihre persรถnlichen Erfahrungen und erlebte Geschichte bis zur Samtenen Revolution im Herbst 1989.

Am Mittwoch, 18. September, wird um 17 Uhr Dr. Yvonne Fiedler in einer Fรผhrung die kreative Bewegung vor ihrem historischen Hintergrund vorstellen. Mit eindrucksvollen Fotos, Dokumenten, Samizdat, Kunstwerken und Filmausschnitten erinnert die Ausstellung an die wichtigsten Unterzeichner der Charta 77 aus dem kรผnstlerischen Untergrund der CSSR.

Eintritt jeweils: 5 Euro, ermรครŸigt 3,50 Euro, Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre frei.

Die Ausstellung โ€žCharta 77. Storyโ€œ ist vom 11. September bis zum 17. November im BรถttchergรครŸchen 3 zu sehen.

โ€žCharta 77 Storyโ€œ ist eine Ausstellung der Tschechischen Nationalgalerie Prag in Kooperation mit der Mรคhrischen Landesbibliothek Brรผnn (Tschechien2019Leipzig) und dem Archiv Bรผrgerbewegung Leipzig. Gefรถrdert von dem Sรคchsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Unterstรผtzt durch die Vรกclav Havel Bibliothek und Bibliothek Libri Prohibiti. Autorin der Ausstellung: Zuzana Brikcius, Kuratorinnen: Zuzana Brikcius und Dr. Johanna Sรคnger (deutscher Ausstellungsteil). Grafik und Architektur der Ausstellung: Marek Jodas.

 

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