Am Montag, 18. Juli, wurde im Museum der bildenden Künste die Ausstellung „Point of no return“ eröffnet, das große Wunschprojekt von Museumsdirektor Alfred Weidinger, von dem er schon zu seinem Amtsantritt vor zwei Jahren träumte. Jetzt, kurz vor seinem Weggang nach Linz, kommt die Ausstellung zustande, die mit „Wende und Umbruch“ nur zum Teil zu tun hat. Dafür mit einer riesigen blinden Stelle in der (ost-)deutschen Kunstwahrnehmung. Ein Loch, in dem ganze Schicksale verschwunden sind.

Was Alfred Weidinger schon 2017 ahnte, als er zu seinem Amtsantritt verkündete, fortan jede Woche in Leipzig zwei bis drei Künstlerateliers besuchen zu wollen, um die Künstler und Künstlerinnen kennenzulernen. Da hatte er schon so eine Ahnung, dass die ostdeutsche Kunstgeschichte ein Riesenloch aufweisen könnte. Denn große Kataloge und Monografien zur DDR-Kunst sind spärlich, nur wenige Künstler wurden überhaupt mit ihrem Lebenswerk derart gewürdigt. 90 bis 95 Prozent der Künstler im deutschen Osten hätten nicht einmal eine ordentliche Werkaufarbeitung, schätzt Weidinger.

Darin wurde er am Montag, 22. Juli, als er die Ausstellung der Presse vorstellte, von Paul Kaiser (Direktor Dresdner Institut für Kulturstudien) und Christoph Tannert (Leiter Künstlerhaus Bethanien, Berlin) unterstützt. Die beiden Männer hatte Weidinger als Kuratoren für die Ausstellung nach Leipzig geholt, weil er sie als versierte Kenner der ostdeutschen Kunstszene kannte. Beide, so betonte auch Tannert, hätten in den vergangenen 30 Jahren veritable Kämpfe um die Deutung der ostdeutschen Kunst und ihrer staatsnahen und staatsfernen Künstler geführt.

Zur Vorsicht bot sich Weidinger gleich mal als Moderator für die beiden an. Aber die drei waren sich nicht nur einig in dem, was sie vorhatten, die Zusammenarbeit gelang auch gerade deshalb, weil sie widerstreitende Positionen mitbrachten.

Wasja Götze: Die reizende Mauer, 1988, Öl/Hartfaserplatte, 92x123cm, Privatbesitz, Foto: Wasja Götze
Wasja Götze: Die reizende Mauer, 1988, Öl/Hartfaserplatte, 92x123cm, Privatbesitz, Foto: Wasja Götze

Und weil die Ausstellung auf keinen Fall eine weitere Streitbühne über die „Staatskunst der DDR“ werden sollte. Davon gab es seit 1990 wirklich genug. So viele, dass man zeitweise das Gefühl hatte, es gab in der DDR nur hochbezahlte Staatskünstler und ein paar Dissidenten, die nicht ausstellen durften. Aber im Künstlerverband der DDR waren am Ende allein über 2.000 bildende Künstler. Die meisten kennt man gar nicht, weil sie auch in DDR-Zeiten schon kaum Chancen hatten, sich einen Namen zu machen. Sie passten nicht ins erwartete Konzept, sie machten auch mit einem Weggang in den Westen nicht von sich Reden.

Und nur Kenner wie Christoph Tannert wissen, wo man überhaupt ihre Spuren und Nachlässe findet. Denn viele von ihnen sind heute schon hochbetagt oder sind längst verstorben. Viele werden für die Besucher eine echte Entdeckung sein. Auch wenn – gefühlvoll einsortiert – auch Tübke, Sitte und Heisig zu sehen sind.

Doch mit den üblichen Schulen (Leipziger Schule, Dresdner Schule, Berliner Schule …) wollten sich die drei Kuratoren gar nicht abgeben. Ihnen ging es um die Künstlerinnen und Künstler, die vor allem in den 1980er Jahren in der DDR tätig waren und ihre persönliche Sicht auf die Welt in Kunst umsetzten, um persönliche Handschriften und Blickwinkel. Das, was Kunst eigentlich erst ausmacht.

Und die 1980er Jahre waren eine besondere Zeit. Das Gefühl im Osten, dass dieser Zustand nicht mehr lange anhalten wird, war allgegenwärtig. Auch wenn niemand den totalen Zusammenbruch der DDR antizipieren konnte, so Tannert, trifft die Ausstellung ihre Besucher mit Wucht, denn die Bilder erzählen trotzdem von diesem Gefühl, dass da ein großer Umbruch kommt, ein Riss, eine große Verwandlung, ein Transit, der sich nicht mehr vermeiden lässt. Selbst Weidinger, der ja als Österreicher einen gewissen Abstand hat zu dieser Zeit und diesem Fleckchen Erde, spricht von einer Erschütterung, die ihn erfasste, als er durch die fast fertige Ausstellung ging.

Obwohl er ja die ganze Zeit dabei war und Kaiser und Tannert machen ließ, denen es vor allem wichtig war, die Künstler/-innen in ihrer persönlichen Not zu zeigen, ihrem Entsetztsein und ihrer Suche nach einem Bild für ihre aufgestauten Gefühle. Entstanden sind so lauter Erlebnisräume, in denen sich unterschiedliche Künstler begegnen. Die Stile können völlig unterschiedlich sein. Doch in der persönlichen Betroffenheit sind sich die in den Zimmern Gruppierten dann auf einmal erstaunlich nah. Die Großen den Kleinen, die Bekannten den Unbekannten. Selbst jene Künstler, die noch vor 1989 in den Westen gingen, schleppten ihre DDR-Prägung mit, setzten sich damit auseinander und blieben so in einem riesigen Dialog, der aber nirgendwo jemals zu einer großen Ausstellung wurde.

Doris Ziegler: Große Passage, 1989-1990, Mischtechnik auf Leinwand, 295x350cm, Privatbesitz, Foto: InGestalt/Michael Ehrit, /VG Bild-Kunst Bonn, 2019
Doris Ziegler: Große Passage, 1989-1990, Mischtechnik auf Leinwand, 295x350cm, Privatbesitz, Foto: InGestalt/Michael Ehrit, /VG Bild-Kunst Bonn, 2019

Mit dem Ergebnis, dass wir über die Kunst in den letzten Jahren der DDR nur Weniges wissen. Obwohl die besten unter den Künstlern all die Themen, die uns heute so offenkundig sind, längst in Bilder verwandelt haben. Bilder, die es aber fast nie in den Bestand eines Museums schafften. Viele landeten in Privatsammlungen, die heute regelrecht zur Fundgrube werden, oft aber versuchten selbst die Nachlassverwalter/-innen vergeblich, den Nachlass der Verstorbenen in Museen unterzubringen. So wie bei Joachim Völkner, dessen Nachlass das Museum der bildenden Künste jetzt endlich 35 Jahre nach seinem Tod übernommen hat. Und auch an andere Museen vermittelt, wie Weidinger betont.

Denn Künstler, die nirgendwo in öffentlichen Sammlungen vertreten sind, existieren quasi nicht. Ihre Stimme wird ausgelöscht.

„So etwas hätte es in Österreich nie gegeben“, so Weidinger. Da würden Kunstwissenschaftler regelrecht suchen nach Künstlern, die noch keine wissenschaftliche Monografie haben. Im deutschen Osten ist es genau andersherum. Deswegen wirkt die Ausstellung auch wie ein Schrei. Eine regelrechte Entladung der Gefühle, die über 30 Jahre nicht wahrgenommen werden durften, weil sich auch das Feuilleton nur auf Staatskunst versus Dissidenten fokussierte.

„Vielleicht“, sagt Weidinger, „musste es wirklich erst 30 Jahre dauern, bis wir uns diesem Thema widmen konnten. Vielleicht waren wir vorher gar nicht in der Lage, das so zu sehen.“ Ohne all die Ideologie, die in den üblichen Schlammschlachten immer wieder aufgerührt wurde.

Nicht gesehen wurde – wie man jetzt besichtigen kann – der Schmerz, den die Ausgestellten vor diesem befreienden Herbst ’89 in Kunst verwandelten, ihre Not im Beengtsein, Bevormundetsein, Eingesperrtsein. Ein manchmal stiller, manchmal sehr heftiger Schrei nach Leben und Lebendigsein.

Und das Tragische war nicht nur, dass diese Künstler/-innen vor 1989 so gut wie keine Chance hatten, wahrgenommen zu werden. Viele fielen auch nach 1990 erst recht in ein tiefes Loch. Denn auf dem neuen Kunstmarkt vermarkteten sich die am besten, die schon bekannt waren. Viele Maler und Malerinnen erlebten einen neuen und noch viel tieferen Sturz in das Nichtwahrgenommenwerden. Und die Bundesländer taten augenscheinlich wenig bis nichts, um gegenzusteuern.

Deswegen flammte ja in Leipzig die große Diskussion um Künstlernachlässe auf. Denn wenn sich Sachsens Museen nicht bereit finden, den Nachlass dieser Verschwiegenen zu übernehmen, verschwinden ganze Schicksale im Nichts, geht eine ganze Kunstepoche verloren, ohne je kunstwissenschaftlich aufgearbeitet worden zu sein.

Norbert Wagenbrett: Aufbruch, (Aus Zyklus: „Sieben Bilder zur Geschichte der Sowjetunion“), 1989-90, Öl/Leinwand, 181x132 cm, Kunstarchiv Beeskow, Foto: Andreas Kämper / VG Bild-Kunst Bonn, 2019
Norbert Wagenbrett: Aufbruch, (Aus Zyklus: „Sieben Bilder zur Geschichte der Sowjetunion“), 1989-90, Öl/Leinwand, 181×132 cm, Kunstarchiv Beeskow, Foto: Andreas Kämper / VG Bild-Kunst Bonn, 2019

Deswegen mahnt Weidinger die sächsische Staatsregierung, jetzt eiligst eine Förderung für junge Kunstwissenschaftler aufzulegen, die die nächsten sieben bis zehn Jahre nutzen, wenigstens noch mit den letzten lebenden Künstlern aus dieser Zeit zu sprechen und festzuhalten, was festzuhalten geht.

Von den 106 ausgestellten Künstlern sind einige schon verstorben, manche schon in DDR-Zeiten, quasi völlig unerhört, obwohl sie die Not der Zeit wie andere auch mit großer Emotionalität in Bilder gebannt haben. Und allein in den drei Wochen des Ausstellungsaufbaus im Bildermuseum starben wieder zwei, sagt Weidinger, der einfach nicht fassen kann, wie ahnungslos Deutschland mit den Künstlern im Osten umging und umgeht. Als wäre das alles nicht wichtig und nichts wert.

Dabei zeigt die Ausstellung sehr bilderstark, wie genau die Ausgestellten das Gefühl der 1980er Jahre einfingen. Deswegen sollte man sich vom Titel „Point of no return“ nicht täuschen lassen. Er meint nicht den alternativlosen Ausgang der Friedlichen Revolution, sondern das Gefühl der ostdeutschen Künstler in den 1980er Jahren, dass nicht nur ihr Land unaufhaltbar auf einen Punkt ohne Rückkehr zudriftete, sondern sie als Passagiere dieses Landes ebenso. Für manche wurde die Ausreise zum „Point of no return“, für manche wurde der Riss durch ihr Leben und durch das Land erst danach richtig sichtbar.

Ein Riss, der uns auf einmal 30 Jahre später beschäftigt.

Und die Ausstellung lässt ahnen, warum das so ist, warum gerade das Weggedrückte, das Nichtzugelassene auf einmal als großer Schrei nach Leben und Vollgültigkeit aufreißt. Weidinger will sich auch in Linz weiter mit diesem seltsamen ostdeutschen Phänomen beschäftigen. Und er hofft, dass das Bildermuseum auch nach seiner Zeit weitermacht mit der Wiederentdeckung der so lange ignorierten ostdeutschen Kunst.

Und gerade weil die Berühmten in der Ausstellung neben den „Rebellen“ und den Stillen hängen, wird noch etwas sichtbar: Dass die Fragen und Nöte, die vor allen Künstlern standen, oft sogar dieselben waren. Nur die künstlerischen Antworten sind oft genug völlig verschieden. Was sogar beruhigend und herzerwärmend ist, weil es zeigt, dass es nicht auf alle Probleme die eine, amtlich abgesegnete Sichtweise gibt, sondern viele Bildlösungen, manchmal auch Erlösungen. Und man hat das Gefühl auch, weil gerade von den fast Unbekannten viele bis an die Grenze dessen gingen, was noch darstellbar war, ohne die Staatsmacht herauszufordern. Auch das ein Thema, das gar nicht mal so randständig ist in dieser Ausstellung.

Und weil man manchmal ein paar Worte braucht, um in die ausgewählten emotionalen Welten einzutauchen, gibt es in jedem Kabinett einen Einführungstext gleich an der Wand. Man soll sich wirklich Zeit nehmen beim Rundgang, empfiehlt Weidinger. Auch vor jedem Kunstwerk. Denn oft erschließt sich erst bei genauerem Betrachten, was für eine Wucht an Gefühl der oder die Künstler/-in im Bild verwirklicht haben.

Die Ausstellung „Point of no return“ ist im Museum der bildenden Künste vom 23. Juli bis zum 3. November zu sehen.

Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, der im Museumsshop für 35 Euro (im Buchhandel für 45 Euro) zu kaufen ist.

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