Für FreikäuferDie Deutschen und ihre Märchen, das ist eine sehr symbiotische Geschichte. Denn in den Märchen spiegelt sich auch die deutsche Sehnsucht nach einfachen Mustern von Gut und Böse, nach heiler Welt und dem Glück des Braven. Da wird auch die neueste Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum mancher wieder daran erinnert, dass deutsche Märchen mit Romantik eine Menge zu tun haben. Und nach Sehnsucht zurück in prinzliche Zeiten.
Aber das Stadtgeschichtliche versucht’s mal freundlich, in die Ausstellung „MärchenSpiele. Von Zauber, Mut & Abenteuer“ zu locken, die am Dienstag, 7. November, im Ausstellungsraum am Böttchergässchen eröffnet wurde.
„Mit Geschichten über Licht und Wärme, Mut und Belohnung lässt sich die Wartezeit auf das Fest und auf den Frühling auf wunderbare Weise verkürzen: Märchen verzaubern die ganze Familie. Seit dem Erfolg der ‚Kinder- und Hausmärchen‘ der Gebrüder Grimm 1812 erlebten die wundersamen Geschichten nicht nur in Deutschland einen Boom in Literatur, Puppentheatern und Spielen. Andere Sammler und Dichter folgten rasch, von denen Ludwig Bechstein, Wilhelm Hauff, E.T.A. Hoffmann oder Hans Christian Andersen bis heute am bekanntesten sind.“
Das Märchen machte als Kunstform Furore. Und Leute wie Hoffmann reizten das Genre ja mit herrlicher Ironie bis zum Platzen. Die meisten Kinder, die auch die Grimmschen Märchen nur in der geglätteten Kinderbuchvariante kennen, würden Augen machen, wenn sie Meister Floh persönlich kennenlernen würden.
Gern vergessen wird, dass Märchen oft auf uralten Stoffen basieren.
In allen Kulturen gibt es diese Erzählungen mit wiederkehrenden Motiven und Charakteren.
Dank einer reichen Sammlung kann die Ausstellung im Stadtgeschichtlichen europäische Volks- und Kunstmärchen in verschiedenen Perspektiven zeigen. Immer wieder neu erzählt und umgedichtet, entstand in vielen Jahrhunderten eine fast unübersehbare Vielfalt an Geschichten. Die Übergänge zur Sage, Legende oder Fabel sind fließend.
Trotz ihrer Unterschiede haben Märchen Gemeinsamkeiten: Sie behandeln Grundprobleme der menschlichen Existenz, Sorgen und Nöte. Die Gestalten sind typisch und eindeutig, die Handlung ist klar. Es geht um den Kampf zwischen Gut und Böse.
Das Märchen hat meist eine Moral: Am Ende gewinnen alle Helden, oder sie haben etwas Wichtiges dazugelernt. Mit diesen positiven Botschaften können sich alle Zuhörer, Leser oder Zuschauer identifizieren. Märchen stiften Gemeinschaft und sind Lebensweisheit.
Gezeigt werden mehr als 70 wertvolle historische Ausgaben, gesammelt von dem Leipziger Grafiker Heiner Vogel und heute in der Sammlung des Stadtgeschichtlichen Museums. Sie werden ergänzt durch kunstvoll illustrierte Bilderbögen, liebevoll gestaltete Papiertheater und Schulwandbilder.
Bedeutende Illustrationen des 19. Jahrhunderts von Ludwig Richter, Otto Speckter oder Franz von Pocci, schöne Jugendstilausgaben und kindgerechte historische Bilderbücher sind hier ebenso zu sehen wie eine Auswahl von Märchenbüchern der DDR, Ausgaben russischer Märchen und tschechische Pop-up-Bücher. Die Vielfalt der Grafiken zeigt den Stellenwert der Geschichten um schöne Prinzessinnen, mutige Kinder oder Zauberwelten in den Kinderzimmern bis heute. Märchenmotive und Charaktere begegnen uns zwar heute oft auch in Fantasy-Geschichten, haben aber ihren Reiz nicht verloren. „Denn weil sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute …“
Die Ausstellung zeigt dabei auch den Reifeprozess europäischer Märchen gerade in Zeiten des aufkommenden Buchdrucks.
Märchenerzählungen wurden mit der Verbreitung von Schrift und Buch schon vor Jahrhunderten aufgeschrieben. Oft wechselten Erzähltes und Gedichtetes einander ab. Im Barock sorgten französische Feenmärchen und orientalische Stoffe für modische Impulse.
Der Aufklärer Johann Gottfried Herder plädierte dagegen für die Beschäftigung mit Volkspoesie als Ausdruck einer Kulturnation. In diesem Geist wurden die 1812 erstmals erschienenen, scheinbar urdeutschen „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm ungeheuer populär. Andere Sammler und Dichter folgten rasch und erfolgreich.
Die zugleich wissenschaftliche wie poetische Beschäftigung der Romantiker mit Märchen und Sagen inspirierte Volkskundler und Dichter in vielen Ländern. Sie wurden als Teil einer jeweiligen Nationalkultur geschätzt und vor allem im 20. Jahrhundert versucht zu instrumentalisieren. Auch Theater, Volkskunst und bildende Kunst prägen unser Wissen und die Wirkung von Märchen. Bedeutende Grafiker gestalteten Märchenbilder in den Stilen ihrer Zeit. Vor allem schöne Illustrationen und Buchschmuck machen Märchenbücher bis heute zu begehrten Sammlerstücken.
Im 19. Jahrhundert freilich entstand gerade mit dem romantischen Blick auf Märchen auch eine fast kindliche Verklärung.
Nach der Erfindung der Lithografie gehörten die preisgünstigen Einblattdrucke als Raumschmuck, Bastelvorlagen und Lehrmaterial ab etwa 1800 immer mehr zum Kinderleben. Märchen erschienen in Deutschland darauf erst ab 1840, teilweise als Nachdruck von Buchillustrationen. Nach 1860 wurden sie zunehmend aufwendig farbig gedruckt und dienten in den Volksschulen als Anschauungsmittel. Thematisch und künstlerisch konkurrierten mehrere Verlage um Käufer.
In der Sammlung des Leipziger Grafikers Heiner Vogel sind besonders viele Münchener Bilderbogen zu finden. Für deren Verleger Kaspar Braun und Friedrich Schneider arbeiteten zwischen 1848 und 1905 bedeutende Grafiker. Die Tradition des Bilderbogens endete, als neue Illustrationsverfahren und Fotografie die Sehgewohnheiten änderten. Bilder waren im Alltag keine Ausnahme mehr.
Papiertheater erlebten im bürgerlichen Kinderzimmer des 19. Jahrhunderts in Westeuropa einen enormen Boom. Hier konnten Kinder die Theaterleidenschaft der Erwachsenen nachspielen und sich im Basteln üben. Mehrere große Verlage boten auf Ausschneidebögen Bühnendekorationen und Kulissen für wechselnde Stücke an. Dazu gab es die passenden Figuren in üppigen historischen Kostümen. Beliebt waren vor allem Komödien, Historiendramen oder Opern – das Spiel war Unterhaltung und Bildung zugleich. Theaterbegeisterte Familien nutzten mitunter dutzende Bühnenausstattungen über Generationen hinweg.
Die Blütezeit „dramatisierter Märchen“ im Kindertheater begann um 1870 und endete um 1920, als modernere Medien dieses Spielzeug zunehmend ersetzten. Gespielt wurden überwiegend die bekanntesten Märchen der Brüder Grimm, Ludwig Bechsteins oder Wilhelm Hauffs in freier Nachdichtung. Als Vater des Genres gilt der Lustspielautor Karl August Görner, dessen Texte moralische Bildung mit hohem Unterhaltungswert verbanden.
Märchen gehören neben Fabeln und Sagen seit dem 19. Jahrhundert zum Lehrplan der Grundschule. Sprechen und schreiben, Kreativität und Ethik lassen sich daran üben. Allerdings wird der pädagogische Wert der grausamen Strafen oder traditioneller Geschlechterrollen in Märchen auch immer wieder angezweifelt.
Nach 1870 wurden die Verlagsrechte an den Grimmschen Märchen frei. Sie konnten nun in Lesebücher aufgenommen werden. Neben dem Text prägten Schulwandbilder die kindliche Fantasie im Klassenzimmer. Die großen Rollbilder verbreiten sich um 1900 oft nach dem Vorbild des Bilderbogens oder von Buchillustrationen. Sie wurden erst von neueren Medien wie Diaprojektor oder Fernseher abgelöst. Märchen machten zwar nur einen kleinen Teil dieser Lehrbilder aus. Der künstlerische Anspruch aber war hier besonders hoch, wurden sie doch zugleich als Raumschmuck empfohlen. Sie vermittelten eine ideale Welt, jenseits der Gegenwart, städtischer Industrie oder von Krieg und Not.
Wo steht das klassische Märchen in der Gegenwart?
Da wird es dann ganz bunt, weil die Ausstellungsmacher auch vieles zur Märchenwelt in Verfeindung bringen, was eigentlich nicht (mehr) dazu gehört.
Buchillustrationen, Neuverfilmungen und eine große Fülle von Spielzeug sichern den modernen Märchen-Adaptionen heute den Platz im Kinderzimmer und auf dem Gabentisch. Doch auch in anderen Welten kämpfen nun Charaktere wie mutige Kinder oder mythologische Wesen gegen das Böse. Fantasy- und Science-Fiction-Stoffe verweben archaische Kulturen mit Zukunftsvisionen zu alternativen Welten. Moderne Heldenepen oder Fantasygeschichten sind mit der Postmoderne am Ende des 20. Jahrhunderts sehr erfolgreich geworden.
Interaktive Spielflächen ergänzen die Ausstellung.
Aber vielleicht wäre der größte Erfolg der Schau, wenn Große und Kleine doch wieder zum Märchenbuch greifen. Vielleicht sogar zum Grimmschen Original von 1812: „Es war einmal eine kleine süße Dirn, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wußte gar nicht, was sie alles dem Kind geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rothem Sammet, und weil ihm das so wohl stand, und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das Rothkäppchen …“
Die neue LZ Nr. 48 ist da: Zwischen Weiterso, Mut zum Wolf und der Frage nach der Zukunft der Demokratie
Zwischen Weiterso, Mut zum Wolf und der Frage nach der Zukunft der Demokratie
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