Es war ein Schock, den der Künstler Marcel Duchamp erlebte, als er 1912 mit seinen Künstlerfreunden Constantin Brâncuși und Fernand Léger die Luftfahrtschau im Pariser Grand Palais besuchte. Die technische Ästhetik der ausgestellten Fluggeräte riss ihm den Boden unter den Füßen weg. „Die Malerei ist am Ende. Wer kann etwas Besseres machen als diese Propeller? Du etwa?“, soll er zu Brâncuși gesagt haben. Was daraus folgte, machte Duchamp weltberühmt.

Denn natürlich kann niemand den neuen technischen Geräten der Moderne ihre Ästhetik absprechen. Sie leben davon, dass ihre Käufer darin mehr sehen als ein praktisches Utensil. Ganze Mannschaften von Designern arbeiten daran, die Dinge zu Kunstwerken zu machen, die ihre Eleganz auch dann nicht verlieren, wenn sie zu Millionen hergestellt werden.

Was natürlich gerade für einen hellwachen Künstler wie Duchamp erschreckend ist. Denn wenn erst einmal der Blick dafür geweckt ist, in den allgegenwärtigen Alltagsgegenständen auch die ästhetische Ausgewogenheit zu entdecken, die man doch eher Kunstwerken zuschreibt, dann ist die Welt auf einmal voller Kunstwerke. Und die beklemmende Frage steht: Was unterscheidet eigentlich das Fließbandprodukt noch vom originären Kunstwerk?

Eine nicht ganz unwichtige Frage gerade in dieser Zeit, in der sich die Kunstepochen quasi im Monatstakt ablösten, eine wilde Künstlergruppe die andere mit immer neuen Stilrevolutionen zu übertrumpfen versuchte – gefeiert von einem heißlaufenden Kunstmarkt, mit Entsetzen kommentiert von einem Kunstfeuilleton, das bei diesem rasenden Wechsel der Avantgarden nicht mehr mitkam. Noch galt der Künstler als Genie, wurde er vor allem für seine Fähigkeit bewundert, einzigartig schöne Kunstwerke zu schaffen.

Oder einzigartige verwirrende Kunstwerke. Denn wohin gelangt man, wenn man die Grenzen immer weiter hinausschiebt und den Betrachter mit immer verrückteren Objekten frappiert?

Duchamp zeigte es ab 1913. Da stellte er sein erstes Objet trouvé aus, das „Roue de Bicyclette“ – eine Fahrradspeiche mit Rad, Barhocker und ein bisschen Ölfarbe. Sein erstes Ready-made, das weder Kunstwelt noch Kollegen noch Duchamp selbst so ernst nahmen, dass sie es als Revolution der Kunstbetrachtung begriffen. Es landete auf dem Schrott. Die Zeit war noch nicht ganz reif. Auch wenn Duchamps Gedanke seine Freunde Brâncuși und Léger schon angesteckt hatte, die sich ebenfalls zunehmend mit der Ästhetik von Fabrik-Produkten beschäftigten.

1914 ließ Duchamp den „Flaschentrockner“ folgen. Aber für die eigentliche Sensation sorgte 1917, als er bei der großen Schau der Society of Independent Artists im New Yorker Grand Central Palace sein heute berühmtestes Ready-made ausstellte: die „Fontäne“, ein handelsübliches Urinal aus einem New Yorker Sanitärgeschäft, das er mit „R. Mutt“ signiert hatte.

Womit er den gängigen Kunstbegriff endgültig infrage stellte. Seitdem diskutieren die Kunstwissenschaftler, reiben sich immer neue Künstlergenerationen an dem Problem. Oder sie feiern diesen Moment im April 1917, denn dieser New Yorker Moment hat dazu geführt, dass niemand mehr an Marcel Duchamp und seinem konsequenten Angriff auf ein überholtes Kunstverständnis vorbeikam.

Und diesen Moment will jetzt die Reiter Galerie in der Leipziger Spinnerei auf ihre Weise feiern. Oder doch eher wieder zur Diskussion stellen, denn sie hat mehrere zeitgenössische Künstler zur Ausstellung im Zeichen Marcel Duchamps und einer in Warholscher Kopierfreude vervielfältigten „Fontäne“” eingeladen.

„,Fountain of Youth‘ Der ‚Richard Mutt Case‘ als Hintergrundrauschen im 21. Jahrhundert“, lautet der Titel der Schau, zu der die Galerie einlädt: „2017 jährt sich Marcel Duchamps Coup, eine Sanitär-Keramik als Kunstwerk zu präsentieren, zum 100sten Mal. Das frühe Exempel von Konzeptkunst fand Nachahmer und mündete in eine Avantgarde-Bewegung, der neben Robert Rauschenberg und Jasper Johns u.a. auch Mary Bauermeister angehörte. Ihre Werke (u.a. im Bestand von MoMA, Guggenheim und Whitney NY) in der aktuellen Schau sind Zeugnis dieser Bewegung und zugleich Verbindung zu Werken jüngerer Künstler des 21. Jahrhunderts. 14 Künstler sind eingeladen, neben einem Werk aus ihrem originären OEuvre ein persönliches ready made, objet trouvé oder found footage zu zeigen.“

Neben Mary Bauermeister stellen in dieser Ausstellung in Halle 6 der Spinnerei auch Hans Aichinger, Lars Bjerre, Manuele Cerutti, Philipp Fürhofer, Steffen Junghans, Falk Messerschmidt, Philipp Modersohn, Sebastian Neeb, Nik Nowak, Sebastian Schrader, Thomas Sommer, Wanda Stolle, Elisa Strozyk und Marie von Heyl aus.

Eröffnet wird die Ausstellung zum Rundgang der Spinnerei Galerien am Samstag, 14. Januar, 11 bis 20 Uhr.

Ausstellungsdauer: 14. Januar – 1.April 2017.

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