Ein kleiner Schlagabtausch zwischen Sighard Gille und Hans-Werner Schmidt, ein paar Lacher im Publikum, eine ziemlich seltsame Journalistenfrage nach den Malzeiten und Kleiderzuständen des berühmten Leipziger Malers – man merkte schon am Freitagmorgen, dass mal wieder überregionale Kulturjournalisten eingeflogen waren nach Leipzig. Was auch im Museum der bildenden Künste nicht allzu oft vorkommt.
Und vielleicht ist das nicht mal ein Makel, wenn man sich den Zustand des deutschen Kulturfeuilletons so anschaut mit seiner Vernarrtheit in den Starkult von Künstlern und die närrischen Allüren einiger Kunststars. Kunst wird nicht mehr über Inhalte vermittelt, sondern über Macken und Eitelkeiten. Andy Warhol zeigt süffige Wirkung. Auch wenn Sighard Gille, einer der namhaftesten Vertreter der Leipziger Schule, derartige Verstörungen aus dem Kunstboulevard eher mit Humor nimmt. Ein Schelm ist er. War es schon immer. Einer, der sich selbst mit Eulenspiegelaugen betrachten kann. Zum Glück.
Womit er für eine Linie in der jüngeren Leipziger Malerei steht, die auch von den vielen Liebhabern der Leipziger Schule selten gewürdigt wird: ihren Sinn für Ironie.
Was auch wieder mit Kunstkritikern der dominant westlichen Schule zu tun hat, die sich nun seit 26 Jahren abarbeiten an der „Staatskunst“ im Osten im Allgemeinen und den Leipziger Großkünstlern im Besonderen. Bestenfalls gesteht man den Vertretern der so auffälligen Leipziger Schule noch zu, dass sie (Bild-)Geschichten mit philosophischem Tiefgang und das oft genug in klassischer Malweise zu präsentieren wissen.
Wer jetzt das riesige Untergeschoss des Museums der bildenden Künste besucht, sieht natürlich, dass das nicht stimmt, dass das viel zu wenig ist. Wer nur das sieht, der kann sich auch gleich Klammern an die Hosen machen. Der hat auch nie verstanden, aus welcher Quelle diese widerborstige Leipziger Malschule kommt. Denn das war sie. Selbst da, wo die jungen Leipziger Rebellen (Stichwort „Leipziger Herbstsalon“) gegen die Etablierten aufbegehrten.
Gerade Sighard Gille, von 1973 bis 1976 Meisterschüler bei einem der drei Großen, die exemplarisch für die Leipziger Schule stehen, bei Bernhard Heisig, ist ein Beispiel für den Eulenspiegel-Blick auf real existierende Zustände. Die berühmte „Brigadefeier/Gerüstbauer“ von 1975/1977 war zu ihrer Zeit ein Skandal, weil sie die viel gepriesenen sozialistischen Werktätigen eben nicht in Sieger- und Brigadierspose zeigte, sondern als ausgelassen feiernde Menschen. So wollte die allweise Parteiführung ihre „führende Klasse“ nie und nimmer gezeigt sehen. Oder diese in ihre Konservendosen eingesperrten „Autofahrer“ von 1972 oder diesen unverschämten Kopulationsakt von 1983/1984, in dem nicht unbedingt nur eine riesengroße Hommage an Max Beckmann steckt.
Beckmann ist – neben Heisig und Otto Dix – eines der Leitgestirne im Gille-Kosmos. Was sich so leicht hinsagt, aber auch in den 1970er und 1980er Jahren nicht zum üblichen Kunstkanon des windschiefen „Sozialistischen Realismus“ gehörte. Das vergisst sich so leicht, wenn man nun schon 26 Jahre in einem Kunstmarkt lebt, in dem alles erlaubt ist, wenn es nur auffällt, in dem Bezüge auf künstlerische Vorbilder sogar fast verpönt sind. Noch immer, muss man sagen. Denn längst ist ja nicht nur die Leipziger Schule zum Verkaufsschlager geworden, sondern auch die Nachfolgergruppe der „Neuen Leipziger Schule“. Eben auch, weil auch Kunstsammler die lesbare Bildgeschichte lieben, erst recht, wenn dazu noch malerisches Können kommt, der unbedingt zum Expressiven neigende Furor des unermüdlichen Handwerkers. Denn der ist auch Sighard Gille, der noch heute Tag für Tag zur Arbeit in sein Atelier fährt und dabei ganz bestimmt keine extravaganten Bekleidungen trägt. Denn wer so malt, wie es die Leipziger Malschüler seit Heisig, Tübke und Mattheuer gelernt haben, der lässt die Emotionen auf der Leinwand frei, nicht im Atelier.
Der Vergleich mit Bach, diesem Berserker komponistischer Fleißarbeit, liegt nahe. Es ist dieselbe Haltung zum künstlerischen Material und zum Hauptgegenstand ihrer Kunst: dem lebendigen Menschen.
Mit Betonung auf lebendig. Deswegen trifft den Besucher dieser Ausstellung das Ausgestellte auch mit Wucht.
So wie wohl auch die meisten Journalisten erst mal von der Wucht geblendet waren, als sie so brav vorm Bild „Die Apokalyptischen (Kitaj, Auerbach, Hockney, Freud)“ saßen, 2013 gemalt mit einem Feuerwerk der Farben, ein buntes Karussell, in das Gille vier seiner Malervorbilder aus England gesetzt hat. Auch da sucht er seine Bezüge.
Hans-Werner Schmidt, der Museumsdirektor, plauderte frischweg drauflos, um Sighard Gille als Schüler (von Bernhard Heisig) und gleichzeitig Lehrer mehrerer längst ebenfalls erfolgreicher Schüler (wie Matthias Weischer) einzuordnen. Obwohl Gille eben für mehr steht, was ihn auch von etlichen Vertretern der Leipziger Schule unterscheidet: Er hat nie aufgehört, sich als Schüler zu begreifen, als Immer-Lernenden. Das machen die 85 Bilder, die jetzt in der Ausstellung „Sighard Gille. ruhelos“ zu sehen sind, eindrucksvoll sichtbar. Sie umfassen den ganzen Zeitraum von 1962 bis 2015 und sind trotzdem nur eine kleine Auswahl aus einem 1.200 Titel umfassenden Werk.
„Ich hätte auch zwei oder drei solcher Ausstellungen machen können“, sagt Gille. Und hat wohl auch den Kurator, Dr. Frédéric Bußmann, launig gefragt, ob man für ihn nicht auch noch die anderen Etagen im Haus hätte freiräumen können. Mit seinen Bildformaten hätte er das Haus spielend gefüllt. Aber dann hätten die Besucher lahme Füße bekommen und wahrscheinlich Schwindelgefühle allein wegen der Fülle.
So ist die Sache noch einigermaßen überschaubar und auch schön zeitlich geordnet, wie sich das für die Retrospektive eines 75-Jährigen gehört. Man kann in aller Ruhe ablaufen, wie sich dieser Mann verändert hat, wie er einst im „Verismus eines Otto Dix“ (Bußmann) begann und sich dann in zunehmender Farbigkeit und Ausgelassenheit gelöst hat von Dix, der in der DDR ganz bestimmt nicht zum vorbildlichen Kanon des braven Realismus gehörte. Genauso wie Beckmann, der Gilles Bilder mit der Zeit zusehends beeinflusste. Der Zeitenwechsel 1989/1990 wirkt dann schon wie eine Explosion in Gilles Werk, als hätte er sich nun – mit der neuen Freiheit seines Landes – selbst wie befreit gefühlt. Aus feiner Ironie wurde jetzt immer wieder auch dicke, pastose Satire.
Hier verzichtete einer mit Lust auf die angestrengte politische Subversion und gab der alles verschlingenden neuen Welt (die ja so neu nicht ist, nur wesentlich bunter) einen zuweilen deftigen Kommentar. „Das soll schon ein bisschen zum Nachdenken anregen“, sagt Gille. Etwa zu seinem 2010 gemalten Bild „Free Pigs“. Aber für den „Nudeltisch“ von 1996 könnte das genauso gelten. Hier hat sich einer emotional nicht einlullen lassen und lieber zu größeren Pinseln gegriffen, um das Bestürzende, Abstürzende und frappierend Geistlose einer wie von Sinnen agierenden Menschheit zu malen.
Und dann wird es still.
Erstaunlich still. Und man erinnert sich überrascht daran, dass auch Heisig und Mattheuer in ihrer Spätphase auf einmal dazu übergingen, unverwechselbar großartige Landschaften zu malen. Als hätten sie vom Trubel der Menschen auf einmal genug und würden sich endlich bewusst, mit welcher Unverwechselbarkeit sie eigentlich Landschaften völlig ohne Menschen und deren irrige Auftritte darstellen können.
So ab 2012 tauchen diese Landschaftsbilder auch im Werk Gilles auf. Keine stillen Landschafen, selbst wenn die gemalten Szenerien das in natura durchaus sein könnten. Aber selbst diese verlassenen Wasser- und Waldstücke werden unter Gilles Pinsel lebendig, werden zu einem Feuerwerk in grünen und blauen Tönen und Lichtern. Als wollte der Maler alles auf einmal schauen, was hier passiert, wenn er mit den Augen zwinkert.
Und da er Maler ist, wird er – gefragt nach dem philosophischen Hintergrund seiner Arbeiten – sehr wortkarg oder weicht lieber listig aus und preist die hübschen Dinge an, die man im Buchshop des Bildermuseums kaufen kann. Den dicken Katalog zum Beispiel, den wir an dieser Stelle natürlich auch noch besprechen werden. Oder die kleinen Plastiken, die er entwickelt hat und die man zusammenbauen kann wie Steckfiguren.
Was dann wieder mit einer ganz neuen Liebhaberei des ewigen Schülers zu tun hat, die gleich im Foyer steht und die man übersieht, wenn man es zu eilig hat: eine Aluminiumplastik mit dem Titel „Don Roland“, halb Don Quichote, halb Rolandfigur. Man merkt schon: Da ist der Ironiker noch immer lebendig, der seinen Cervantes kennt und die moderne Art, sich ritterlich-rolandig wachsam zu geben. Da können die Zeiten wechseln und die regierenden Selbstdarsteller, die Narreteien hören einfach nicht auf und sehen nur auf den ersten Blick ganz lustig aus. Aber nur auf den ersten. Zwei Mal, drei Mal hingucken lohnt sich natürlich.
Offiziell eröffnet wird die Ausstellung „Sighard Gille. ruhelos“, am heutigen Samstag, am 30. Oktober, um 18 Uhr mit vier Reden und Musik.
Zu sehen ist sie im Museum der Bildenden Künste vom 29. Oktober 2016 bis zum 22. Januar 2017.
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