Es lohnt sich, am heutigen Dienstagabend, 16. August, das Haus zu verlassen und ins Böttchergässchen zu spazieren. Da kann man nicht nur eine Ausstellungseröffnung erleben, sondern auch einen zutiefst bewegten Museumsdirektor. Bei den Fotos von Günter Rössler kommt der wortgewaltige Mann beinahe ins Schwärmen. Ist ja auch verständlich: Günter Rössler war ein Genie.

In diesem Jahr wäre der Fotograf aus Leipzig 90 Jahre alt geworden. Zum 80. Geburtstag hatte ihm das Stadtgeschichtliche Museum 2006 eine Ausstellung gewidmet, die mit 18.000 Besuchern eine der bestbesuchten in der jüngeren Geschichte des Museums war. Und das lag nicht nur an den Aktfotografien, mit denen Rössler schon in der DDR-Zeit aufgefallen war. Er galt ja auch als der wichtigste Modefotograf der DDR. Und schon hat man etwas Falsches gesagt. Denn gerade Günter Rössler steht für etwas, was mit diesen Worten aus einer Welt des schillernden Konsums nicht zu fassen ist.

Wer seine Fotos gesehen hat, weiß es.

Wer seine Frauenakte gesehen hat, weiß es.

Wer seine Porträtaufnahmen gesehen hat, weiß es.

Und das hat selbst den im nüchternen Bielefeld aufgewachsenen Dr. Volker Rodekamp gepackt. Und berührt. Weil man es nicht übersehen kann.

Wer Rösslers Frauenbilder gesehen hat, der weiß, was für einen großen Traum von stolzen, selbstgewissen Menschen (nicht nur Frauen) die DDR geträumt hat. „Sozialistisches Menschenbild“ hieß das mal, als dieser Begriff noch unverfänglich und neu war. Und als Maler, Schriftsteller und Fotografen daran gingen, nach diesem neuen Menschen zu suchen. Meistens holten sie sich damit eine blutige Nase. Oder endeten in schierer Trauer, wie Bettina Wegner, als sie 1976 das Lied „Sind so kleine Hände“ („Kinder“) sang. Ein Lied, das man nicht versteht, wenn man nicht die Frauen auf Rösslers Fotos gesehen hat.

Dr. Volker Rodekamp vor den Bildern aus Michael Baders Serie „Milchweiß“. Foto: Ralf Julke
Dr. Volker Rodekamp vor den Bildern aus Michael Baders Serie „Milchweiß“. Foto: Ralf Julke

Frauen, denen man in der DDR tatsächlich begegnen konnte. Sie waren keine einmalige Inszenierung fürs Cover-Bild oder eine Modenshow. Es gab sie tatsächlich. Sie lebten keine verbissene Emanzipation, sondern lebten selbstbewusst das Leben, das sie leben wollten. Ja, man konnte ihnen tatsächlich begegnen. Bis 1990. Als nicht nur ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, sondern dem ganzen Traum einer Gesellschaft selbstbewusster Menschen. Dass Frauen und Männer diesen Traum in der DDR gegen alle Widerstände gelebt haben („Trotz Stasi, SED und alledem ..“), das wird bis heute gern vergessen. Weggeredet. Kleingeredet, in ein „Ihr wart ja auch nicht frei …“ gepackt, voller Verachtung, weil es im Osten nicht geben durfte, was es nicht geben kann in den Augen von lauter Siegern der Geschichte, die sich ihre Siege mit Geld und Ignoranz erkaufen.

Deswegen verkaufen sich Rösslers Bildbände bis heute. Deswegen ziehen Ausstellungen mit seinen Bildern das Publikum an. Nicht nur das männliche, das sich hier zutiefst erfreuen kann an weiblichen Aktaufnahmen, die nichts, aber auch gar nichts mit dem pornografischen Voyeurismus der Billig-Gazetten zu tun haben. Denn Rössler hatte das Talent, seine Modelle nicht nur zu respektieren, sondern ihnen auch im Zustand der völligen Nacktheit all ihren Stolz, ihre Neugier, ihre Verletzlichkeit zu lassen. Hier schauen einen keine Bunnys und Hascherl an, sondern Frauen, denen man mit Respekt begegnet. Weil sie selbst im Zustand der Verletzlichkeit souverän sind. So gegenwärtig, dass man sich erst vergewissern muss, dass die Bilder schon 40, 50 Jahre alt sind. Auch die Modebilder, die partout nicht wie Modebilder aus den 1960er Jahren aussehen.

 

Michael Baders Serie „Hochwohlgeboren“. Foto: Ralf Julke
Michael Baders Serie „Hochwohlgeboren“. Foto: Ralf Julke

Schon damals nicht so aussahen, weil Rössler immer das Moderne und Menschliche im Bild suchte. Seine Bildfindungen sind Ikonen geworden, seine Modelle ebenfalls. Auch wenn kaum jemand die Namen dieser Frauen kennt, die sich so einfühlsam in Licht und Schatten haben inszenieren lassen. Hier wird sichtbar, wonach ein ganzes Land sich immer gesehnt hat: eine Moderne, verbunden mit einfühlsamer Menschlichkeit, die es bis zuletzt immer nur unterm Ladentisch zu kaufen gab. Hier ist das ganze uneingelöste Versprechen der DDR zu sehen.

Das – und auch das vergessen die Kommentatoren gern – auch immer ein Versprechen für ganz Deutschland war. Verglichen mit diesem Menschenbild war all das, was die Ostdeutschen 1990 für überteuerte Preise bekommen haben, billiger und abgestandener Aufguss, altbacken Brot, nur bunter eingepackt.

Und man merkt auch, wenn Rodekamp sich diese Fotos erschließt, dass dieser Verlust tiefgeht. Dass er auch Bielefeld und Bonn betrifft. Oder Düsseldorf, wo zeitgleich versucht wurde, so irgendeine Art Moderne zu schaffen – aber man ist doch wieder nur bei Fettflecken gelandet.

Und natürlich gehört auch Günter Rössler in die Leipziger Schule. Die Fotoschule diesmal, die in diesem Jahr gleich in mehreren großen Ausstellungen gewürdigt wird.

 

Drei Leipziger Oberbürgermeister, von Michael Bader fotografiert. Foto: Ralf Julke
Drei Leipziger Oberbürgermeister, von Michael Bader fotografiert. Foto: Ralf Julke

Sie haben noch immer kein Ticket nach Leipzig gelöst? Na, schlafen Sie denn noch?

Im Museum der bildenden Künste ist parallel die große Ausstellung „Gehaltene Zeit“ mit Fotos von Ursula Arnold, Arno Fischer und Evelin Richter zu sehen. Bis zum 3. Oktober noch. Gleichzeitig gibt es die kleine Kabinettausstellung „Credo Kirche in der DDR“ mit Fotos von Harald Kirschner zu sehen. Das ist drei Mal Leipziger Fotoschule. Drei Mal der Blick in ein anderes Land. Mit den Augen von Fotografen, die konsequent auf der Suche nach dem Menschlichen waren.

Denn das war immer der Maßstab für diese kleine DDR. Das hat Bettina Wegner mit ihrem Lied auf den Punkt gebracht. Und genau an dieser Stelle haben die alten Knacker in Berlin versagt. Komplett. Die immer so gern von „unseren Menschen“ redeten. Und das klang wie Sauerkraut und trocken Brot. Unsere Menschen.

Rössler fand vor allem diese jungen, selbstbewussten Frauen faszinierend. Deswegen gibt es in seinem Bilderkanon das Pendant nicht: den neuen Mann. Den es auch gab. Der sich aber ab 1976 lieber einen Rauschebart wachsen ließ, aus Protest gegen die bartlosen Alten.

Die Ausstellung zum 90. Geburtstag hat Volker Rodekamp dem genialen Fotografen schon 2006 versprochen, zur damaligen Geburtstagsausstellung. 2012 ist Günter Rössler leider gestorben. Aber sein Versprechen wollte der Museumsdirektor einhalten. Die Ausstellung zum 90. Geburtstag gibt es trotzdem. Ohne neuen Katalog, wie Rodekamp betont. Die meisten Rössler-Bilder sind alle schon in eindrucksvollen Bildbänden erschienen. Da hätte man – bis auf einige wichtige neue Motive, die jetzt in der Ausstellung zu sehen sind – nicht viel Neues hinzufügen können, sagt Rodekamp.

Man habe sich deshalb entschieden, den großen Altmeister im Dialog mit einem jungen Meister zu zeigen.

Den kennt kaum ein Leipziger, obwohl er in der Werbefotografie längst ein gefragter Mann ist, im Tapetenwerk ein Atelier hat – aber sonst meistens durch die Welt jettet.

Es ist der Leipziger Michael Bader, dessen Fotoarbeiten den Besucher der Ausstellung quasi als Entrée empfangen. Der Bruch ist augenfällig. Nicht nur, weil Bader ganz anders fotografiert, sondern weil er auch wieder ganz von vorn beginnen musste. Das wird dem Besucher erst deutlich, wenn er durch den Rössler-Teil der Ausstellung gegangen ist und dann wieder vor diesen intensiven Porträts von Kindern steht, die Bader in Kostüme gesteckt hat. Einmal in die eher zurückhaltenden Kinderspielsachen von vor 100 Jahren, die nur zum kleinen Teil Kostüm sind, zum größeren Teil zeigen, wie sehr diese jungen Menschen um die 10 Jahre noch nach ihrer eigenen Persönlichkeit suchen, Posen ausprobieren und wachsende Haltungen deutlich machen.

Die Serie von 2013 heißt „Milchweiß“. Ein Titel, in dem das Unkostümierte, Unfertige mit anklingt.

Gegenüber hängen dann Porträts von teilweise denselben Kindern, die Bader in die fürstlichen Kinderkostüme der Feudalzeit gestreckt hat. Kostüme, die ihre Träger regelrecht zwingen, eine Pose einzunehmen. „Hochwohlgeboren“ hat Bader die Serie genannt, in der die Kinder trotzdem jedes auf seine Art „Haltung“ annehmen, sich in Beziehung zur Rolle setzen, die das Kostüm erzwingt. Sie wirken stiller, ernster, erwachsener. Was uns eine Menge über die Rolle feudaler Kostüme lehrt. Aber auch über die Verunsicherung von Kindern in dieser Lebensphase, wo es darum geht, ein eigenes, belastbares Verhältnis zur Welt zu entwickeln, die richtige, wirklich passende Rolle fürs Ich.

Tatsächlich sind es Bilder über heutige Ungewissheiten und Unsicherheiten. Denn anders als zu Rösslers Zeit werden Kinder heute mit einem Meer von Vor-Bildern und Rollen konfrontiert. Und es geht selbst in dieser frühen Phase nicht mehr wirklich darum, ein unbefangenes Verhältnis zu sich selbst zu finden, sondern die Rolle, mit der man „durchkommt“ im Leben, „Erfolg hat“.

Hier prallen zwei Welten aufeinander.

Erst recht, wenn man sieht, dass in der Ecke auch noch drei Erfolgreiche hängen. Jedenfalls drei, die man für erfolgreich im heutigen Sinne halten kann: die drei Leipziger Oberbürgermeister seit 1990, fotografiert von Michael Bader, alle drei im schwarzen Anzug vor schwarzem Hintergrund. Aber weil Bader sehr viel Wert auf die Detailgenauigkeit bei Händen und Gesicht legt, werden drei völlig verschiedene Charaktere sichtbar. So verschieden, wie sie auch in der Leipziger Politik agiert haben.

Nur so viel verrät Dr. Rodekamp vorab: Die drei Fotos sind ein Projekt von Oberbürgermeister Burkhard Jung. Der wird am heutigen Dienstag ebenfalls zur Eröffnung kommen und erklären, was es mit diesen drei Fotos auf sich hat.

Die Ausstellung wird am heutigen 16. August um 18 Uhr eröffnet. Neben Rodekamp und Jung wird auch Fred R. Wilitzkat zu Wort kommen, der 2012 einen einfühlsamen Film über Günter Rössler gedreht hat. Der Film ist in einer Sitzecke in der Ausstellung zu sehen, so dass jeder, der auch über den begnadeten Fotografen noch mehr erfahren möchte, sich hier mitnehmen lassen kann in die Welt des bekanntesten Aktfotografen der DDR, der aber vor allem eins geschafft hat: zu zeigen, wovon dieses graue Land im Osten einst geträumt hat. Und es war ein großer Traum mit großen Augen und einem Ernst, den man in der heutigen Karnevalsgesellschaft oft bitter vermisst.

„Meisterfotografie. Günter Rössler & Michael Bader“.

Ausstellungseröffnung: 16. August, 18. Uhr im Stadtgeschichtlichen Museum im Böttchergässchen 3.

Ausstellungsdauer: 17. August bis 31. Oktober 2016.

In eigener Sache – Eine L-IZ.de für alle: Wir suchen „Freikäufer“

Eine L-IZ.de für alle: Wir suchen „Freikäufer“

 

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar