Man lernt doch immer wieder was, wenn man das Zeitgeschichtliche Forum besucht. Auch wenn man sich ärgert. Oder erschrickt. Kommt ganz darauf an. Denn ab dem heutigen 15. Juni zeigt die Wechselausstellung im Haus an der Grimmaischen Straße Mythen. Deutsche Mythen. Und zwar aus Ost und West. Und da gibt es genug Grund, sich richtig zu erschrecken.
Nicht im Spiegelraum weiter hinten in der Ausstellung, wo es um die ganzen deutschen Fußballmythen geht und der Besucher sich selbst sieht im Spiegel. Mittendrin. Quasi als buntes Teilchen von Schland. Sondern vorher schon, wenn man aus dem Mythos um die „Stunde Null“ und dem Neustart 1945 auf einmal in ein geteiltes Deutschland kommt – linkerhand präsent mit dem 1.000.001. Käfer aus Wolfsburg als Symbol für das „Wirtschaftswunderland“ und rechterhand mit Ehrenmal, Arbeiterstatue und gewichtigen Mahnmalen aus dem „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ – ein Mythos, natürlich.
Zusammengebaut aus lauter Mythen-Bausteinen, die nie so richtig funktionierten, obwohl die regierende Partei den vollen Zugriff auf die Massenmedien hatte. Da Diktaturen den vollen Zugriff auf die Medien haben, haben sie auch die Macht, Mythen zu setzen, betont Prof. Dr. Hans Walter Hütter, Präsident der Stiftung Haus der Geschichte. Drei Häuser betreut diese Stiftung. Eins davon ist das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig. Und hier wurde die Idee, mit der sich die Stiftung schon seit über zwei Jahren trug, auch umgesetzt. Die Federführung hatte Dr. Daniel Kosthorst.
Und das größte Problem war wohl eher, den Wald der Mythen zu lichten und jene Mythen zu nehmen, die sichtbar machen, wie so etwas funktioniert. Denn eine Erkenntnis kann Dr. Jürgen Reiche, Direktor des Zeitgeschichtliche Forums, auf den Punkt bringen: „Mythen sind Konstruktionen, sie kommen auch nicht von selbst.“
Das vergisst der brave Bürger und Medienkonsument gern, wie sehr die Legenden, die ihm über sein Land und seine Geschichte erzählt werden, von anderen Leuten gemacht werden – von Politikern, die sie für ihre Politik instrumentalisieren, und von Medien, die damit ihre Konstrukte von Wirklichkeit verkaufen und in der Regel auch Emotionen schüren wollen. Exemplarisch dafür ist ein ganz früher Mythos der Bundesrepublik: „Das Wunder von Bern.“
Seitdem scheint Fußball das wichtigste einigende Band der Deutschen zu sein. Möglicherweise – das sagt Daniel Kosthorst – als einen Ersatz für eine früher beliebte Mythenbildung: „Fußball ersetzt die frühere Erinnerung an berühmte Schlachten, die manchmal sogar richtig weit in der Geschichte zurückliegen.“ Das gilt auch für Deutschland. Bis zur krachenden Niederlage des Hitlerreiches gehörten auch die siegreichen Schlachten etwa im Deutsch-Französischen Krieg zur Mythenbildung in Deutschland. Sie waren sogar fundamental bei der Herausbildung eines (kleindeutschen) Nationalgefühls preußischer Prägung.
Es gab keinen Ort im Reich, an dem nicht Gefallenen- oder/und Siegesdenkmale zur Erinnerung an die mystifizierte Reichsgründung während des Deutsch-Französischen Krieges aufgestellt wurden. Wie wirksam diese – von oben gesetzte – Mythenbildung war, war 1914 zu sehen, als ein Kaiser keine Parteien mehr kennen wollte und sich Tausende freiwillig zum Zug gegen „den Erbfeind“ meldeten. Leicht verständlich, dass gerade die Sozialdemokraten nach dem (ersten) verlorenen Krieg nur zu gern aufgeräumt hätten mit den alten Staatsmythen und ihren Denkmälern. Sie haben es bekanntlich nicht geschafft. Die Erzeuger neuer Mythen waren erfolgreicher und haben ein von Mythen besoffenes Volk in den nächsten Krieg geführt. Was dann 1945 dazu führte, dass es – so Jürgen Reiche – in Deutschland einen regelrechten Mythen-Schnitt gab: Die alten Mythen waren völlig desavouiert.
Niemand hatte die Chuzpe, da wieder anzusetzen. Und so lag es natürlich nahe, dass sich die neu entstehenden Staatengebilde auch völlig neue Mythen zulegen mussten. Ohne Mythen geht es nicht. „Mythen stiften uns Sinnhaftigkeit und geben uns Halt“, sagt Reiche. Sie sind unerlässlich, wenn es um die Identitätsfindung einer Nation geht.
Da ist sie wieder: die Nation. Nicht totzukriegen. Aber es ist augenscheinlich der naheliegende Bezugsrahmen, in dem Völker ein Bild von sich bekommen können. Denn Mythen konstruieren für die Nation eine (neue) Geschichte. In jedem Mythos steckt ein wahrer Kern. Aber um wirkmächtig zu werden und zum Teil einer großen, akzeptierten (Wunder-)Erzählung für ein Land zu werden, treten in den Mythen die konkreten (und oft sehr komplizierten) wirklichen Ereignisse zurück. „Mythen sind eine Rekonstruktion der Vergangenheit nach den Vorstellungen der Gegenwart“, sagt Hans Walter Hütter.
Man darf sie nicht unbedingt mit wissenschaftlicher Skepsis anschauen, da werden sie nervös. Aber sie schaffen quasi in der Rückschau auf ein allen bekanntes Ereignis eine neue Geschichte, mit der sich Viele identifizieren können. Daniel Kosthorst vergleicht es mit dem Funktionsmechanismus in unserem Gehirn, das zurückliegende Ereignisse aus unterschiedlichen Erinnerungen, Emotionen, Bildern im Moment der Erzählung jedes Mal neu erschafft. Die neue Geschichte wird nicht zu einer dokumentarischen Wiedergabe des tatsächlich Geschehenen, sondern zu einer Selbstvergewisserung des Erzählers, der sich quasi selbst eine Erklärung schafft für sein jetziges So-Sein.
Wenn ein Land wie die Bundesrepublik ihren kämpferischen Ursprungsmythos also in einem siegreichen Weltmeisterschaftsspiel von 1954 bündelt, kann es auf die glorreiche Erinnerung an mörderische Schlachten verzichten. Die ganzen Kriegerdenkmale stehen zwar noch überall herum im Land. Aber der alte Kriegermythos mit kraftprotzenden Germanen, Arminus und Germania funktioniert nicht mehr. Wobei dieses Kapitel der deutschen Geschichte ganz bestimmt ein faszinierendes Studienfeld ist, wenn man wissen will, wie Mythen gemacht werden und wie sie dann so wirken, dass am Ende ein ganzes Volk dran glaubt und sich als Teil einer wagnerschen Operngeschichte begreift. Da sind zwar die Mythen, die in den beiden deutschen Zonen und Staaten nach 1945 entstanden, deutlich weniger martialisch und wesentlich moderner. Aber wirkmächtig sind sie in Teilen genauso.
Einen ganz frühen Mythos teilen sich beide Staaten sogar, auch wenn er im Westen eher als „Stunde Null“ Furore machte, im Osten als „Auferstanden aus Ruinen“. In beiden Mythen steckt die Vorstellung, dass mit dem Kriegsende und dem Wiederaufbau eine neue Gesellschaft entstand und alles Schreckliche, was dieses Volk davor angerichtet hatte, abgehakt und vorbei wäre. Man hatte sich quasi auch mit einem Wiederauferstehungsmythos entnazifiziert. Der Unterschied der Mythen, die dann in Ost und West entstanden, ist eklatant. Bis zum Ärgernis oder dem oben geschilderten Erschrecken. Denn 26 Jahre nach dem Ende der DDR stehen die einstigen Staatsmythen in all ihrer emotionalen Leere da. Sie verbinden sich nicht (mehr) mit einem gemeinsamen Erleben. Zumindest die, die es in die Ausstellung geschafft haben. Und das waren ja nun einmal die offiziellen Mythen, die dem Staatsbürger tagtäglich um die Ohren gehauen wurden.
Den westlichen Mythen begegnet man zwar auch immer wieder – manchmal bis zum Überdruss. Aber sie haben ihre Gültigkeit durch die Deutsche Einheit nicht verloren. Die wurde ja sogar in der riesigen Hoffnung auf ein zweites „Wirtschaftswunder“ initiiert. Was auch deshalb funktionieren konnte, weil sich kaum ein Deutscher je damit beschäftigt hat, was während des „Wirtschaftswunders“ eigentlich wirklich passiert ist. Man hat dann immer nur die Bilder vom millionsten Käfer vor Augen, oder vom einmillionenundeinsten, wie er in der Ausstellung steht.
Und selbst gegen den Mythos der starken D-Mark konnte der „Arbeiter-und-Bauernstaat“ (der ja nie einer war, regiert haben nur ein paar ergraute Parteifunktionäre) nicht anstinken, genauso wenig wie gegen den Mythos vom Autoland („Freie Fahrt für freie Bürger!“) oder der immer neu erzählten Geschichte vom Weltmeister. Denn der Topos vom Fußball-Weltmeister wurde auch auf andere Bereiche übertragen – allem voran der „Export-Weltmeister“. Eine Übertragung, die Jürgen Reiche sehr kritisch sieht. Denn wenn ein Volk sich mehr und mehr einbildet, in vielen Bereichen Welt-Meister zu sein, quasi von Natur her, „dann führt das auch zu Überheblichkeit.“ Auch gegenüber anderen Ländern, Völkern, Nationen.
Zuletzt brachial zelebriert in der Griechenland-Krise. Und die großen Orchesterspieler, wenn es darum geht, Geschichten in Mythen umzuschreiben, sind natürlich die (Massen-)Medien – vom Fernsehen bis zur „Bild“-Zeitung, die auch aus dem zum Papst gewählten Josef Kardinal Ratzinger gern einen Mythos gemacht hätte: „Wir sind Papst!“. Deswegen kann man sich in der Ausstellung auch mal auf einem „Papstsessel“ fotografieren lassen und sich fragen: Wie sehr bin ich selbst Teil des Mythos?
Denn Mythen dienen, so Jürgen Reiche, nun einmal auch zur sehr phantasievollen Antwort auf Fragen wie „Wer sind wir?“ und „Wie wollen wir gewesen sein?“ Es steckt eine Menge Verklärung mit im Mythen-Basteln, aber auch ein sehr aktiver Akt der Identifikationsstiftung. Und unübersehbar ist, dass ein Fußball-Wunder-Deutschland in der Welt deutlich beliebter ist als ein Siegfried-der-Held-Deutschland. Angucken und mit den 900 ausgestellten Exponaten (manche davon auf recht wundersame Weise in die Ausstellung gerutscht) auseinandersetzen kann man sich im Zeitgeschichtlichen Forum (Grimmaische Straße 6) vom 15. Juni 2016 bis zum 15. Januar 2017. Ein Buch zur Ausstellung gibt es auch. Das besprechen wir an dieser Stelle in Kürze auch noch.
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