Das Haus ist eine Legende, auch wenn es nun seit über 70 Jahren aus dem Leipziger Stadtbild verschwunden ist: das Künstlerhaus. Eine kleine Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum zeigt jetzt, was für ein Kleinod das war. Und sie macht schon mal Appetit auf eine Sonderedition der „Leipziger Blätter“ im September: Dann gibt es die erste ausführliche Publikation über das einstige Kleinod am Nikischplatz.
Wer heute auf den Nikischplatz geht, findet zumindest noch eine Art Torweg und zwei Tafeln, die an das 1943 zerbombte Haus erinnert. Der Durchgang wirkt provisorisch, aber auch der ist historisch, denn auch das 1900 erbaute Künstlerhaus bot so einen Durchgang. Das war Bedingung der Stadt für den Bau dieses Hauses, mit dem der Leipziger Künstlerverband sich einen Traum erfüllte – und sich am Ende finanziell völlig übernahm.
„Eine Hochburg der modernsten Modernen“, so bezeichnete der Architekt Fritz Drechsler das Leipziger Künstlerhaus bei der Eröffnung am 27. Oktober 1900. Es gab also auch damals schon Architekten, die um einen Superlativ nicht verlegen waren, wenn es um das eigene Werk ging: Drechsler hatte nicht nur den Wettbewerb für dieses Vorzeige-Projekt des Leipziger Jugendstils gewonnen, er hat es auch bauen dürfen – unter tatkräftiger Hilfe von vielen Leipziger Künstlern, die in der Außen- und Innengestaltung zeigten, was sie konnten.
Tatsächlich ist das Künstlerhaus untrennbar mit der kurzen Phase des Leipziger Expressionismus und der künstlerischen Aufbruchstimmung zwischen den beiden Weltkriegen verbunden. Drechsler war 1899 als Sieger aus dem Architekturwettbewerb zur Errichtung eines Vereinshauses für den Leipziger Künstlerverein hervorgegangen, dessen Vorsitzender er zugleich war.
Das Grundstück in der Bosestraße war schwer zu bebauen: Zur Straße hin (die damals noch als Teil der Bosestaße galt, erst 1922 bekam der Nikischplatz seinen Namen) war es nur 8,5 Meter breit, dafür war das Grundstück 60 Meter tief und eingekeilt zwischen hohen Wohnhäusern. Zudem musste der oben erwähnte Durchgang zur Zentralstraße öffentlich zugänglich gehalten werden.
Drechsler löste diese Aufgabe und schuf eine beeindruckende Jugendstilarchitektur. Die Straßenfassade war von großen Glasflächen bestimmt, die den Lichteinfall in dahinter liegende Ateliers ermöglichten. 20 namhafte Künstler waren an der reichen Gestaltung der Fassade und des Gebäudeinneren beteiligt.
Das Gebäude am Nikischplatz 2, so die Adresse seit 1922, bot zahlreichen Künstlern Wohnungen und Ateliers, beherbergte Ausstellungsräume, einen Festsaal, ein Restaurant und eine Bibliothek. Selbst eine Kegelbahn war im Keller. Im Festsaal wurden rauschende Feste gefeiert, die seinerzeit Legende waren und die Presse in Aufregung versetzten – die aber auch einen Zweck hatten: Geld einzuspielen für den Verband. Denn ab 1907 wurde sichtbar, wie schwer es war, das Haus zu betreiben, in dem einige der ärmeren Leipziger Künstler auch ihre kleinen und bezahlbaren Atelierwohnungen hatten.
Außerdem war das Haus Sitz verschiedener Vereine, darunter der Leipziger Künstlerbund, der Verein Leipziger Jahresausstellungen (LIA), die Leoniden und die Allgemeine Deutsche Kunstgenossenschaft.
In den Jahrzehnten nach der Eröffnung lebten und arbeiteten mehr als 50 bildende Künstler in diesem Haus, darunter vier Künstlerinnen. Weitere wohnten im gegenüberliegenden „Märchenhaus“ und im umliegenden Viertel. Viele von ihnen vertraten die modernen künstlerischen Strömungen der Zeit und kämpften um deren Anerkennung. Fast alle sind jedoch heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Oft genug unverdient. Nicht nur, weil sich Leipzigs zahlungskräftiges Bürgertum schwer tat mit den neuen Kunststilen. Ihr Idol war ein Typ wie Max Klinger, der jahrelang auch so eine Art Übervater der Leipziger Kunstszene war. Mit seinem aus dem späten 19. Jahrhundert stammenden Stil, der eigentlich mit dem Jugendstil endete (aber auch Anklänge an den späteren Surrealismus hatte) war er typisch für den herrschenden Kunstgeschmack, der es jungen und experimentellen Künstlern in Leipzig schwer machte, Aufmerksamkeit zu erregen oder gar in die Sammlung des Leipziger Bildermuseums zu kommen.
Den heftigsten Schlag aber versetzten später die Nationalsozialisten diesen Künstlern, indem sie ihnen die Arbeitsgrundlage entzogen, sie in die Verbannung drängten und ihre Werke dann 1938 zum Gegenstand der Aktion „Entartete Kunst“ machten. So verlor das Museum der bildenden Künste sogar noch die wenigen Werke, die man von den modernen Künstlern in der Stadt überhaupt erworben hatte.
Und nach dem Krieg dominierte wieder ein altbackener Funktionärsgeschmack, der viele Jahre lang die Beschäftigung mit der europäischen (und damit der Leipziger) Moderne verhinderte.
Deswegen sieht man aus dem Fundus des Stadtgeschichtlichen Museums (und bis auf zwei Leihgaben einer engagierten Sammlerin stammen alle Ausstellungsstücke aus diesem Fundus) kaum Werke dieser experimentellen Künstler, sondern eher klassische Arbeiten, die aber auch wieder zur Entdeckung einladen. Denn damit wird sichtbar, wie vielfältig und durchmischt die Mitgliederschaft im Künstlerverein war- von teilweise gut verdienenden Porträtmalern der klassischen Schule bis hin zu den Expressionisten um Rüdiger Berlit.
Und natürlich findet man viele Sammelstücke, die an die einstigen Feste in diesem Haus erinnern. – Die rauschenden Feste und Kostümbälle, die Geld in die klamme
Vereinskasse spülen sollten, waren legendär. Doch schon 1907 wurde die prekäre finanzielle Lage des Künstlervereins deutlich. Zahlreiche Beschwerden von Nachbarn über Lärmbelästigung und Rauchentwicklung riefen immer wieder die Baupolizei auf den Plan.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten und deren kunstfeindliche Ideologie veränderten das Leben im Künstlerhaus dann gänzlich. Zahlreiche Künstler aus seinem Umkreis galten nun als „entartet“. In der Bombennacht des 4. Dezember 1943 brannten große Teile des Hauses aus. Und damit ging nicht nur ein für Leipzig einzigartiges Haus verloren. Einige wenige überlieferte Innenaufnahmen zeigen, dass mit der Vernichtung des Hauses auch eine reichhaltige künstlerische Innenausstattung und wahrscheinlich auch wertvolle Kunstsammlungen verloren gingen.
2013 wurde das erhalten gebliebene Eingangsportal saniert und mit zwei Gedenktafeln versehen, ein erhalten gebliebener Gedenkstein von 1928 erinnert an drei im Ersten Weltkrieg gefallene Leipziger Künstler.
Die Ausstellung zeigt nun erstmals in so kompakter Auswahl Werke von Bewohnern des Künstlerhauses und erinnert an ein Kapitel Leipziger Kunstgeschichte, das auf seine Wiederentdeckung wartet. Oder gewartet hat. Denn die Anbringung der Gedenktafeln, die kleine Ausstellung und die geplante Sonderausgabe der „Leipziger Blätter“ zeigen natürlich, dass dieses Haus nie wirklich ganz vergessen war. Nur die Würdigung fehlte und die Aufarbeitung der ganz besonderen Geschichte des Hauses, das 1943 in Flammen aufging.
Natürlich kann man rätseln, ob das Haus eine Chance gehabt hätte, wenn es nicht im Bombenhagel untergegangen wäre. Hätten die kargen Verwalter der DDR das Haus überhaupt über die Zeiten gerettet? – Die Künstlerverbände allein hätten nicht die Kraft dazu gehabt. Insofern steht das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auch für das Ende einer Zeit, in der ein reiches Bürgertum auch eine ganze Menge Künstler in der eigenen Stadt beschäftigte und manche davon auch reich machte.
Die Ausstellung „Vergessene Avantgarde. Das Künstlerhaus am Nikischplatz 1900–1943“ ist im Studio des Stadtgeschichtlichen Museums im Böttchergässchen vom 24. Juni bis zum 16. Oktober zu sehen.
Die Sonderedition der Leipziger Blätter „Vergessene Avantgarde“ ist für den 15. September geplant.
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