Die Ausstellung, die am gestrigen Mittwoch, 7. Oktober, im Zeitgeschichtlichen Forum eröffnet wurde, mutet an, als wäre sie extra für die aktuelle "Flüchtlingskrise" entworfen worden. Dabei hatten sie die Ausstellungsmacher des Hauses der Geschichte schon länger in der Planung. In Bonn war sie sogar schon zu sehen. 130.000 Besucher haben sie sich dort angeschaut.
Natürlich kommt die neue Flüchtlingsproblematik am Ende auch noch vor, obwohl sie nicht direkt dazu gehört. Sie ist ein eigener Themenkomplex, betonte Dr. Hans Walter Hütter, Präsident der Stiftung Haus der Geschichte am Mittwoch zur Pressekonferenz. Denn die Menschen, die jetzt aus den Bürgerkriegsländern und ramponierten Republiken des Südens nach Deutschland kommen, entfliehen ja unaushaltbaren Lebensumständen, versuchen Leib, Leben und Familie zu retten. Was die alte Diskussion über die Auslegung des Asylrechts im Grundgesetz wieder befeuert hat. Aber da vor allem, weil die Bundesrepublik bis heute kein Einwanderungsgesetz hat.
Und in der Ausstellung “Immer bunter. Einwanderungsland Deutschland” geht es genau darum – und natürlich um die ganz reguläre Einwanderung, die eben seit Ende des 2. Weltkrieges doch geschehen ist – und zwar angetrieben von der Deutschland AG selbst. Das “Wirtschaftswunder” der 1950er Jahre war ja bekanntlich so heftig, dass sich schon ab 1955 ein immenser Mangel an Arbeitskräften bemerkbar machte und die Bundesrepublik begann, massiv Gastarbeiter anzuwerben – zuerst aus Italien, später aus Spanien, Griechenland und der Türkei. Und Hütter erinnerte am Mittwoch daran, warum der Terminus “Gastarbeiter” verwendet wurde: Die Regierenden der alten Bundesrepublik waren augenscheinlich der festen Überzeugung, die zumeist ungelernten Arbeitskräfte würden nur so lange da bleiben, wie sie als Hilfsarbeiter gebraucht würden, und dann wieder zurückkehren in ihre Herkunftsländer. Was ja bekanntlich so nicht passiert ist: Die meisten holten ihre Familien nach, wollten auch in der Bundesrepublik bleiben.
Das Ergebnis, das sich Teile der deutschen Politik erst weit nach dem Jahr 2000 eingestanden, war: Die alte Bundesrepublik war im Grunde schon seit den 1950er Jahren ein echtes Einwanderungsland.
Die DDR war es nie, was übrigens einer der Gründe dafür sein könnte, warum ausgerechnet in Ostsachsen die Menschen zu Tausenden auf die Straße gehen und fordern, die Flüchtlingsströme einzudämmen. Zwar holte auch die marode DDR-Wirtschaft Tausende Vertragsarbeiter aus Vietnam, Polen, Mosambik und anderen “befreundeten” Ländern ins Land. Aber diese wurden weitgehend abgeschottet, eine Integration in die Gesellschaft war nie vorgesehen. Und die offiziellen Medien sparten eine Diskussion über diese fleißigen Arbeitshelfer aus anderen Ländern völlig aus – ein Tabu-Thema, das ja bekanntlich schon 1991 und 1992 in Hoyerswerda und Rostock zu heftigen Krawallen von Rechtsextremisten und “besorgten Bürgern” führte. Doch statt das Thema dann endlich aufzunehmen und öffentlich zu diskutieren, duckten sich die Landesregierungen weg. Und daran hat sich in Sachsen bis heute nichts geändert.
Die ostdeutsche Sprachlosigkeit trifft also gerade auf eine westdeutsche Trotzphase. Denn dass die Bundesrepublik ein echtes Einwanderungsgesetz braucht, ist der ganzen politischen Prominenz spätestens seit 1990 klar. Doch damals ließ man – trotz der zunehmenden rechtsradikalen Übergriffe auf Migranten – das Thema einfach von sich abtröpfeln. Die nach Arbeitskräften hungernde westdeutsche Wirtschaft bekam ja alles, was sie sich wünschte, frei Haus – nämlich direkt aus dem Osten des neu zusammengeleimten Landes. Und diese über vier Millionen Menschen, die da im Lauf der Jahrzehnte von Ost nach West gewechselt sind, waren allesamt gut ausgebildet und hatten teilweise die besten Qualifikationen. Das hat über Jahre die eigene Fachkräftelücke geschlossen, auch dann noch, als die ersten geburtenschwachen Jahrgänge auf den westdeutschen Arbeitsmarkt kamen.
Natürlich wird auch diese selbst nach 1961 anhaltende Auswanderungswelle aus der DDR in der Ausstellung ebenfalls thematisiert. Denn während die großen Unternehmen die nagelneuen Arbeitskräfte mit Kusshand nahmen, entfachten Boulevardmedien die völlig überflüssige Diskussion darüber an, ob man diese vielen DDR-Flüchtlinge eigentlich brauche. Man muss tatsächlich nicht bis 1945 zurückgehen, um das Flüchtlingsthema in Deutschland aktuell zu besetzen.
Das Problem im Westen ist bis heute, dass man das Thema konsequent nur ökonomisch besetzt hat. Als wertvoll galt immer nur, wer mit seiner Arbeitskraft das Bruttosozialprodukt steigerte. Und es ist auch kein halbes Jahr her, dass die Wirtschaftsverbände auch die aktuelle Flüchtlingsdiskussion mit ökonomischen Forderungslisten bereicherten.
Aber da geht man nun durch diese bunte Ausstellung, lässt sich von Filmschnipseln einfangen, gerät in kleine Fernsehkabinette, liest Zeitungsfetzen und die Reisepässe wildfremder Menschen, sieht, wie sie begeistert aus den Zügen springen und mit Blumen empfangen werden – und dann dreht man sich um und sieht, wie sie in den vergangenen 60 Jahren das Land verändert haben. Auch den Osten. Denn 25 Jahre sind auch schon eine historische Zeitspanne. “Unsere Vietnamesen” sind einfach dageblieben und haben kleine Restaurants und Ladengeschäfte gegründet. Fast sehnsüchtig wurden 1990 die vielen Italiener, Türken und Japaner erwartet, deren Speisekultur man beim ersten Westbesuch erlebt hatte. Und heute sind sie alle da, gehören zum Alltagsbild in ostdeutschen Städten. Genauso wie die Mofas aus Italien, die französischen Kleinwagen, der spanische Wein und das italienische Spezialitätengeschäft.
Man sieht all die Dinge, die die Zuwanderer nach Deutschland mitgebracht haben, auch in der Ausstellung. Und dann und wann bleibt man stehen und versucht sich vorzustellen, wie das Land eigentlich aussehen würde, wenn diese Millionen Menschen nicht nach Deutschland gekommen wären. Dr. Jürgen Reiche, der neue Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums, verwendet dafür den Begriff “grau”. Recht hat er. Fade wäre auch noch so ein Wort, das man benutzen könnte.
“Dieser Zuzug hat unsere Gesellschaft reicher gemacht”, sagt er und betont das Wort “reicher” dabei so, dass beides mitschwingt, auch der erwirtschaftete gesellschaftliche Reichtum, den es ohne all die Malocher, Jobber, Hilfskräfte und Aufsteiger mit “Migrationshintergrund” nicht gebe. Reiche: “Es gibt keine homogene Gesellschaft, keine abgeschlossene Gesellschaft …” Zumindest nicht unter den entwickelten Industrienationen. Unter den zurückgebliebenen Bergvölkern schon. Denn Abschottung bringt nicht nur den Warenaustausch und Wissenstransfer zum Erliegen, er sorgt auch dafür, dass eine Gesellschaft erstarrt, keine neuen Anregungen und Herausforderungen mehr bekommt.
Und das – so Hans Walter Hütter – ist in gewisser Weise sogar der ungeschriebene Teil der jüngeren deutschen Geschichte. Man erwähnt die Zuwanderung der “Gastarbeiter” zwar, befasst sich aber nicht mit den Veränderungen, die die gesamte Gesellschaft dadurch erlebt hat. Was dann bei den Ungebildeten unter unseren wortstarken Politikern das seltsame Bild eines Deutschlands ergibt, in dem alles Erreichte reineweg aus eigener Kraftmeierei entstand und die Zuwanderer immer nur partizipiert haben, quasi mitversorgt wurden am erwirtschafteten deutschen Reichtum.
Genau diese Bilder dominieren ja heute die Diskussion und erzeugen den Eindruck, als brauche nur irgendwo in Europa wieder eine Mauer gebaut zu werden, um all die Menschen abzuhalten, die hier doch nur wieder an die vollen Fleischtöpfe wollen. Statt nach 60 Jahren wenigstens ein bisschen Verständnis dafür zu entwickeln, wie sehr die offenen Grenzen Europas dazu beigetragen haben, dass Deutschland seine Wirtschaftskraft mehren konnte und heute sogar als attraktives Einwanderungsland gilt. Das ist ein Reichtum, der einfach ignoriert wird, obwohl er offen vor uns liegt.
In der Ausstellung begegnet der Betrachter natürlich allen diesen Aspekten, auch den heftigen Diskussionen, die über die Jahrzehnte immer wieder geführt wurden. Die aktuelle Diskussion erinnert verdächtig an genau dieselben Schlagabtausche aus den 1960er und den 1970er Jahren.
Auch der östliche Teil der Geschichte fehlt nicht, genauso wenig wie die vielen verschiedenen Wege zur Integration – manche Zuwanderer wollten zwar hier arbeiten, aber weder Sprache noch Kultur ihrer Heimat ablegen, andere haben sich schnellstmöglich an die Gebräuche der neuen Heimat angepasst. Und zwangsläufig hat sich auch die Gastgesellschaft verändert. Selbst die mediale Diskussion ist vielfältiger geworden und längst nicht mehr so brachial wie in den 1960er Jahren. Vielleicht fühlen sich die rechtsradikalen Krachmacher deshalb so überfordert und schreien lieber “Lügenpresse”, wo sie die Veränderungen nicht mehr verstehen.
Die Ausstellung regt an, über die ganz unmittelbare Gegenwart nachzudenken, auch wenn sie eigentlich die Zuwanderung in Arbeit der vergangenen Jahrzehnte thematisiert – übrigens auch die von Unternehmern, Wissenschaftlern und Sportlern, was nur allzu gern vergessen wird. Am Ende ist man sich durchaus bewusst, wie sehr sich das ganze Land geändert hat und tatsächlich bunter, lebendiger und attraktiver wurde.
Die Ausstellung ist im Zeitgeschichtlichen Forum vom 8. Oktober 2015 bis zum 17. April 2016 zu sehen. Und dann wandert sie möglicherweise gleich weiter nach Berlin. “Wir haben schon eine Menge Anfragen bekommen”, sagt Jürgen Reiche.
Keine Kommentare bisher