Irgendetwas ist da augenscheinlich passiert - entweder in der Bildungspolitik und ihrem ewigen Herumexperimentieren an den Lehrmethoden. Oder die Informationsüberflutung hat zugeschlagen. Es waren tatsächlich die jüngeren Teilnehmer der Pressekonferenz zur Ausstellung "In guter Nachbarschaft" am Freitagmorgen, die regelrecht verzweifelt waren über das unfassbare Thema.
Der Titel der Ausstellung selbst, die am Freitag, 19. Juni, im Museum der bildenden Künste ganz offiziell eröffnet wurde, verrät nicht, dass es drinnen mal nicht so aufgeräumt aussieht. “In guter Nachbarschaft”, das klingt nach Plüschsessel, Carport, gestutztem Rasen und Schild an der Gartenpforte: “Hier wache ich.”
Damit hat das Ganze nichts zu tun. Kein Reinigungsplan fürs Treppenhaus, keine Gartenordnung, nicht mal eine rote Linie.
Darf man das?
Die jungen Damen fragten von hinten nach vorne, nach Ordnung, zentralem Anliegen, Hauptthema, Überschriften, Schrifttyp. Ihnen war das alles zu wild. Nicht geordnet genug. Auch wenn Museumsdirektor Hans-Werner Schmidt und der Kurator der Ausstellung, Dr. Marcus Hurttig, mehrfach versicherten, dass es diesmal anders sein sollte. “Ein Experiment”, sagte Schmidt, bevor das Ping-Pong-Spiel richtig heftig wurde. Und kurz vor Schluss: “Der Begriff ist ein Steigbügel – reiten müssen Sie schon selber.”
Das war die Stelle, an der die jungen Leute in der Pressekonferenz schon fast verzweifelt nach dem Sinn der Begriffe gefragt hatten, mit denen die zwölf Leitbilder der Ausstellung übertitelt sind.
Assoziationen? Was ist das?
Eigentlich müsste man schreiben: Leit-Bilder. Denn Marcus Hurttig ist extra in die Magazine des Bildermuseums gekrabbelt, um zwölf Kunstwerke hervorzuholen, die der Museumsbesucher sonst eher nicht sieht. Sie sollten die Sammelgeschichte des Museums ein bisschen deutlich machen. Und sie sollten möglichst viele Assoziationen wecken. Assoziationen, das ist der ganze Kram, der einem einfällt, wenn man seine Gedanken schweifen lässt. Da kommt man – nur als Beispiel – beim “Heiligen Hieronymus” auf eine Menge Gedanken. Das ist der Heilige, der immer mit einem Löwen, meist auch mit einem oder mehreren Büchern und mit einem Totenkopf dargestellt wird. So wie in der kleinen Plastik von Paul Heermann, die der Permoser-Schüler um 1700 aus Alabaster angefertigt hat und die Marcus Hurttig für die erste Abteilung der Ausstellung aus dem Magazin geholt hat.
In der Anatomischen Lehrsammlung des Instituts für Anatomie kam man da sofort auf Assoziationen. Schädel und Schädelbilder hat man dort jede Menge. Im Grassi-Museum für Völkerkunde fand man zwar keinen Schädel, aber dafür ein Kopffragment. Die Universitätsbibliothek fand ein altes Foto aus der alten Leipziger Stadtbibliothek, auf dem die Hieronymus-Statue zu sehen war. Und im Antikenmuseum kam man beim Nachdenken auf Homer – denn Hieronymus liebte antike Literatur. Und so steht jetzt auch eine Homerbüste in der Ausstellung.
Denn einfach irgendwelche Schauzimmer zu den anderen großen Leipziger Sammlungen machen wollte Hurttig nicht. Er wollte etwas ganz anderes, eine kleine Zeitreise ins 18. und frühe 19. Jahrhundert, das Zeitalter der Aufklärung und die letzte Blütezeit der großen Leipziger Wunderkammern und Kunstkabinette. Die waren berühmt. Einige reiche Leipziger hatten einen Großteil ihres Vermögens darauf verwendet, die wunderbaren Dinge aus aller Welt zu sammeln: Bilder, Muscheln, Münzen, aber auch Mineralien, Gemmen, exotische Stücke aus aller Welt oder auch die berühmten Missgeburten. Die Sammlungen waren ein buntes, faszinierendes, aber auch wildes Sammelsurium der seltsamsten Dinge aus aller Welt.
Sammelfreude wird Systematik geopfert
Und im 19. Jahrhundert wurden sie, so berichtet Hans-Werner Schmidt fast mit Bedauern, allesamt Opfer der zunehmenden wissenschaftlichen Systematik. Anatomische Präparate landeten in der Anatomischen Sammlung, Gemälde im Bildermuseum, Trophäen von Reisen in aller Welt wanderten ins Völkerkundemuseum. Usw. Die Dinge sind fein säuberlich geordnet und sortiert. Und haben nun – scheinbar – nichts mehr miteinander zu tun. Sollten sie aber, fand Hurttig, wollte aber den Leitern und Leiterinnen der anderen Leipziger Sammlungen, die er besuchte, nicht vorschreiben, was ihnen zu seinen Bildvorschlägen einfallen solle.
Zwölf Bildvorschläge hatte er ausgewählt. Und seine Idee fand mehr als wohlwollende Aufnahme. Nicht nur in der Universität mit ihren vielen Einzelsammlungen, auch im Naturkundemuseum, in den Grassi-Museen, im Apothekenmuseum, im Psychiatriemuseum … 24 Leipziger Sammlungen haben mitgemacht und zu all den Bildern, zu denen den Sammlungsleitern etwas einfiel, Exponate gestiftet.
Der Titel ist eine Klammer ist ein Steigbügel …
“Manchmal entstanden regelrecht dissonante Zusammenstellungen”, stellt Hurttig fest. “Dazu musste ich dann eine Klammer finden.” Das ist dann der Titel, der über dem einzelnen Ausstellungsteil steht. Überm Heiligen Hieronymus hätte auch “Memento Mori” stehen können. Aber jetzt steht da “Gelehrsamkeit”. Über der nächsten steht “Protest”. “Da hätte auch Demonstration stehen können”, sagt Hurttig. Und erntet trotzdem Protest, weil unter dem Demo-Plakat von 1989 nun ausgerechnet ein altes Gewehr aus dem 19. Jahrhundert liegt. Das gehöre einfach nicht zusammen.
Das Bild, das Hurttig aus dem Magazin geholt hat, ist von Bernhard Heisig, 1962 gemalt: “Pariser Kommune III”. Man muss schon genau hingucken, um zu sehen, dass er eigentlich eine Pariser Straßenszene von 1871 gemalt hat. Doch die Transpartente im Bild erinnern sofort auch an den Herbst 1989 in Leipzig. Das sind die Assoziationen, die Hurttig meint und die auf einmal zeigen, dass die 25 verschiedenen Leipziger Sammlungen, die räumlich so streng getrennt sind, auf einmal, wenn sie in Berührung kommen, miteinander in Korrespondenz treten. Der Eine sieht im Aufstand der Kommune die Friedliche Revolution reflektiert, der Nächste sieht die Waffen in den Händen der Soldaten, die den Aufstand niederschlagen, der Dritte die Pflastersteine, die zum Barrikadenbau dienen, der Vierte die Schrift auf den Transparenten – und denkt dabei an die große Leipziger Druck- und Typographiegeschichte. Auf einmal wird aus einem sonst streng sortierten Museum wieder so etwas wie eine Spielwiese des Geistes.
“Es empfiehlt sich, den traditionellen, intellektuellen Navi auszuschalten und sich auf die Ausstellung einzulassen”, sagt Schmidt.
Das ist augenscheinlich in einer Generation, die mit dem Navi aufgewachsen ist, ganz schwer. Wer lässt seinen Geist schon noch schweifen? Wer hat noch Spaß am Assoziieren, denkt bei einer schweren Bronzeplastik mit dem Titel “Quelle” an Nixen, Nymphen, die Geburt der Venus, alte Meeresgötter, Aphrodite oder gar gleich an Geburt, Gebärmutter und Geburtshilfe? An Brunnen? – Leipziger Museumsdirektoren schon. Wohl auch, weil sie den Teil der klassischen Bildung noch hatten in Schule und Studium. Restbestände aus einer Zeit, als humanistische Bildung auch immer umfassende Bildung bedeutete. Vielleicht ist es das, was heute die Generationen scheidet und die Jungen in Panik versetzt, wenn eine Ausstellung keinen roten Faden hat, keine simple Struktur und kein greifbares Thema. Eine Paul-Klee-Ausstellung ist eine Paul-Klee-Ausstellung. Aber diese zwölf Assoziations-Räume, die Hurttig da zusammengestellt hat?
Ist das Chaos in unserem Kopf oder eher schöpferische Sammelfreude?
Reines Chaos? Oder doch etwas, was in unseren Köpfen ständig passiert, nur das wir es uns eher selten bewusst machen. Oder regelrecht aberziehen lassen. Von Lehrern, für die alles seine Ordnung haben muss. Systematik verdrängt die Buntheit unseres freien Denkens.
So gesehen ist diese Ausstellung eine Rückkehr in eine Zeit, in der Menschen noch richtig Freude daran hatten, in den Dingen ihre Ähnlichkeiten und Verwandtschaften zu entdecken. Manchmal auf frappierende Weise wie bei Fransico Goyas “Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer”, wenn das Naturkundemuseum dazu Flughunde und Kätzcheneulen präsentiert und das Museum in der Runden Ecke ein altes Lenin-Bild auspackt. Überhaupt scheint man in der Runden Ecke besonders viel Spaß am Assoziieren gehabt zu haben. Zu Rembrandts “Selbstbildnis mit Dolch”, auf dem sich der Maler in Verkleidung dargestellt hat, hängen dann gleich mal ein paar Farbfotos von stolz verkleideten MfS-Mitarbeitern. So weit kann Maskerade gehen. Von Marcus Hurttig übertitelt mit: “Selbstinszenierung”.
Aber auch diese Titel haben es in sich. Der Kurator spricht von einer “Klammer”, die er damit den einzelnen Bild-Welten gegeben hat. Aber weil er damit auch versuchte, so eine Art Mega-Thema zu finden, entsteht eine Art menschlicher Lebenszyklus: 1. Gelehrsamkeit, 2. Protest, 3. Lebensraum, 4. Lebensquelle … 12. Opfertod. Man staunt und nickt. Die großen Leipziger Sammlungen sind zwar jede einzelne für sich wissenschaftlich fein sortiert, in der Regel auch viel zu ordentlich. Aber wenn sie sich mal auf so eine Weise wie jetzt im Museum der bildenden Künste begegnen, dann wird sichtbar, dass sie eigentlich alle die Spuren, Zeichen und Überbleibsel menschlichen Daseins sammeln. Man muss nur alle 25 Museen irgendwie gleichzeitig und durcheinander besuchen, um das zu merken.
Oder in den nächsten drei Monaten mal ins Bildermuseum gehen und in der Ausstellung “In guter Nachbarschaft” mal das “intellektuelle Navi” auszuschalten, was augenscheinlich schwer fällt. (Hilfe! Wo ist der Rote Faden!) Aber man sieht möglicherweise mehr als in den üblichen braven Ausstellungen. Vielleicht nicht das, was sich der Kurator dabei gedacht hat. Aber der wandt sich am Freitagfrüh mit Unbehagen auf seinem Stuhl. Da hatte er nun mal eine Ausstellung gemacht, die richtig zum Streunen, Abschweifen, Hin-und-her-Hüpfen einlädt, zum eigenen Assoziieren. Und da soll er nun trotzdem erklären, was er damit wohl gemeint haben könnte.
Er ist nicht schreiend aus dem Raum gerannt. Er hat es sich tapfer gefallen lassen.
Der Untertitel der Ausstellung heißt übrigens “Vielfalt und Reichtum aus 25 Leipziger Sammlungen”. Was Finanzbürgermeister Torsten Bonew ganz wichtig war zu betonen, denn die Ausstellung ist Teil des 1.000-Jahre-Jubiläums und soll auch auf spielerische Weise sichtbar machen, wieviele reiche Sammlungen Leipzig hat. Die selten so zusammenkommen. Und noch viel seltener mit der Aufforderung: Lassen sie ihre Gedanken doch mal von der Leine.
(Hilfe! Nein! Das geht nicht!)
Die Ausstellung “In guter Nachbarschaft” ist im Museum der bildenden Künste vom 20. Juni bis zum 13. September zu sehen.
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