Russland war mal ein Avantgarde-Land. Wer's nicht glaubt, der kann sich ab Donnerstag eines Besseren belehren lassen. Dann eröffnet im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig die Ausstellung „SchriftBild. Russische Avantgarde“. So jung war Russland nie wieder.

Die Ausstellung „SchriftBild. Russische Avantgarde“ gibt einen Einblick in ein Jahrhundert-Experiment: Der bürgerlich-akademischen Kultur im Russland des beginnenden 20. Jahrhunderts setzten die Künstler der russischen Avantgarde eine Neudefinition von Kunst entgegen. Nicht nur der jahrhundertelang tradierte Unterschied von Hochkultur und Alltagskultur, auch die Grenzen zwischen den Künsten wurden eingerissen. Sprache, Schrift und Bild verschmolzen zu einer Synthese, neue Zeichenwelten mit universellem Anspruch entstanden. In einer fieberhaften Suche nach einer neuen Bildsprache schlugen die Künstler Brücken zwischen technischem und kulturellem Fortschritt, erträumten eine dynamische Welt, in der Menschen Maschinen und Maschinen Menschen befeuern und schufen visionäre bildliche Paradoxe.

Lang ist das her. Die Namen sind heute noch ein Begriff.

Als die „neuen Wilden“ der russischen Kultur vor 100 Jahren ihre Kunst selbstbewusst „eine Ohrfeige“ gegen den bürgerlichen Geschmack ihrer Zeit nannten, ahnte die akademische Kunstwelt nicht, welchen Schlag ihr die Avantgardisten mit ihren Werken versetzen würden. Von der politischen Elite der jungen Sowjetunion anfangs als Propagandakunst neuen Typs bejubelt, fielen die Künstler der russischen Avantgarde in ihrer unbändigen Neuerungswut dann freilich unter Stalin in Ungnade. Weder der theoretische Ansatz noch die umfassende Protestgeste der jungen Künstler passten zu der staatlich gesteuerten Agitationskunst des so genannten “sowjetischen Realismus”.

Der kulturelle Einfluss der russischen Avantgarde auf die aufkommende Moderne des 20. Jahrhunderts ist hingegen nicht hoch genug einzuschätzen: Weder Yves Klein noch Barnett Newman, Ad Reinhardt oder Donald Judd sind ohne diesen Modernisierungsschub denkbar. Die gestalterische Revolution der russischen Avantgarde überrascht auch 100 Jahre nach ihrer Entstehung durch eine unverwechselbare Modernität und “Unverbrauchtheit” und wirkt in Kunst und Typografie, Malerei, Plakatdesign, Werbung und Buchgestaltung bis heute stilprägend.

Die Ausstellung „SchriftBild. Russische Avantgarde“ kann Dank der großzügigen Unterstützung zahlreicher russischer Leihgeber Arbeiten von allen wichtigen russischen Künstlern und Künstlerinnen der Zeit zeigen – darunter Vladimir Mayakovsky, Alexander Rodchenko, Natalia Gontcharova, Pavel Tretyakov und Varvara Stepanova. Die Schau, die das Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek im Rahmen des vom Auswärtigen Amt initiierten Jahres der deutsch-russischen Literatur in Kooperation mit dem Staatlichen Museums- und Ausstellungszentrum ROSIZO, Moskau zeigt, gibt einen einmaligen Einblick in diese vielstimmige kulturelle Revolution am Beginn des 20. Jahrhunderts.

W. Stenberg, G. Stenberg. „Im Frühling“. 1930. Poster. Farblithographie. Russische Nationalbibliothek, St.-Petersburg
W. Stenberg, G. Stenberg. „Im Frühling“. 1930. Poster. Farblithographie. Russische Nationalbibliothek, St.-Petersburg

Leipzig – ehedem Hauptstadt des Buches und noch heute Hochburg der Typographie, die mit der Hochschule für Graphik und Buchkunst auch eine der wenigen typographischen Ausbildungsstätten beherbergt – ist, so schätzt es auch die Nationalbibliothek ein, der beste Ort für diese Ausstellung. Innerhalb des Themenspektrums des Deutschen Buch- und Schriftmuseums fügt sich das Thema „russische Avantgarde“ in einen Reigen von Ausstellungen, der sich in den nächsten Jahren den „Golden Twenties“ widmet. Ziel dieser Schwerpunktsetzung ist es, die Kultur dieses modernen und in der schillernden Fragilität besonders interessanten Jahrzehnts zu würdigen und im Vorfeld seiner 100. Wiederkehr Forschungen und Veröffentlichungen anzustoßen.

Begleitend zur Ausstellung erscheint unter dem selben Titel ein Bilder- und Lesebuch zum Thema, das Dank der großzügigen finanziellen Unterstützung der „Gesellschaft für das Buch“ e.V., dem Freundeskreis der Deutschen Nationalbibliothek, realisiert werden konnte. Das Buch hat 196 Seiten und bildet alle 160 Werke der Ausstellung ab.

Vom 5. Juni bis zum 4. Oktober zeigt das Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek die Ausstellung „SchriftBild. Russische Avantgarde“. Die Eröffnung der Ausstellung findet am Donnerstag, 4. Juni, um 19:30 Uhr im Museumsfoyer der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig statt.

Zur Ausstellungseröffnung sprechen nach der Begrüßung durch Michael Fernau, Direktor der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig, Dr. Stephanie Jacobs, Leiterin des Deutschen Buch- und Schriftmuseums, und Faina Balakhovskaya, State Museum and Exhibition Center ROSIZO. Und danach gibt es richtige Sprechkunst mit dem Schauspieler Axel Thielmann, Sprache und Gesang. Mit musikalischer Begleitung.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar