Es haben sich ja eine Menge Leute viele Köpfe zerbrochen, was sie denn nun zum 25. Jahrestag von Herbst '89 und Maueröffnung alles anstellen. Ausstellungen zu den großen Demos gab es allerorten. Mauerfallspektakel auch. Im Leipziger Zeitgeschichtlichen Forum tauchte da die hübsche Idee auf, die Friedliche Revolution einfach mal mit der Sexuellen Revolution zu konfrontieren. Wo doch nun schon alle über Sex reden.

Oder sind es doch nur die einschlägigen Großmedien, wo die verantwortlichen Redakteure vom Thema nicht genug bekommen können? “Spiegel Online” etwa, das mal wieder eine Serie für die Schaulust produzierte: “Sexsymbole der Neunziger: Pop und Porno”. Als hätten in den 1990er Jahren nicht alle Magazine schon Pop und Porno rauf und runter genuddelt. Dabei war es wohl das verklemmteste Jahrzehnt seit den ebenso bunt lackierten 1950er Jahren.

Und wie war das mit der DDR, diesem Land, dem kenntnisreiche Kommentatoren in den 1990er Jahren den Nimbus eines sexuell besonders aufgeklärten, FKK-verrückten Landes zuschrieben? War da was dran? Oder stimmt, was “Spiegel Online” ebenfalls dieser Tage vermeldet: “Berlin: Das wahre Sozialistenparadies lag im Westen”. Manchmal darf man wohl zu recht das Gefühl haben, dass sich jeder Autor die Geschichte zurechtbiegt, wie sie ihm gerade in den Kram passt. Mythen entstehen nicht von allein. Mythen werden geschaffen und haben ein erstaunlich zähes Leben. Denn eine freizügige Kommune in Berlin-West macht noch keine Sexuelle Revolution. Und die 68er entpuppen sich nun auch im Ausstellungskabinett des Zeitgeschichtlichen Forums als schönes Märchen. Wie so Vieles, was Sex und Moral in Deutschland betrifft.

Aber diese ruhelose Zeit gehört natürlich dazu, wenn man über die vergangenen fast 70 Jahre irgendetwas aussagen will, an deren Ende zumindest eines fest steht: Unsere Gesellschaft ist etwas freier geworden, etwas liberaler in ihren Haltungen und Ansichten. Auch wenn der dunkle Bodensatz der Vorurteile gerade wieder mit längst vergessener Wucht hochzukochen scheint. Geschichte kennt keinen geradlinigen Verlauf. Und als 1945 zwei halbe Länder aus Schutt und Asche auferstanden, hatten sie – was die Sexualmoral anbetrifft – wohl die finstersten 1.000 Jahre in der deutschen Geschichte hinter sich. Das war nicht einfach in ein, zwei Jahrzehnten zu überwinden. Denn die alten Moralapostel saßen ja – mit frisch geföhnter Frisur – wieder in Amt in Würden, in Gerichtssälen, Redaktionen und Studios. Und so erinnern sich die Älteren eben nicht nur an das Wirtschaftswunder drüben und das Bau-auf-bau-auf hüben. Sie erinnern sich auch an die Skandale der jeweiligen Nationen. Wobei die Skandale West natürlich immer die spannenderen waren – ob nun “Das Mädchen Rosemarie”, “Das Schweigen” oder “Lolita” – in Zeitungen und Studios schäumten die Moralwächter, heizten die Stimmung an und predigten Scham und Anstand und Respekt.

Und schon wenig später konnten die selben Medien sich überbieten in der Kür immer neuer Sexsymbole. Das geht eigentlich so bis heute. Dafür ist sogar die Pädophilen-Debatte der Grünen symptomatisch, stellt Dr. Jürgen Reiche, Ausstellungsmacher im Haus der Geschichte fest, zu dem das Zeitgeschichtliche Forum gehört. “Natürlich geht das Thema nicht”, sagt er. “Aber man versteht es auch nicht, wenn man es aus der Diskussion der 1968er herauslöst.”Und das gilt für alle Geschichten um Sex und Moral in Deutschland: Fast alles, was im Regal der Erinnerung wie eine Heilige Kuh aussieht, ist das direkte Produkt seiner Zeit und nur so auch zu verstehen. Das geht selbst Dr. Rainer Eckert so, dem Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums. Er hat aus aktuellem Anlass ein altes Schmuggelbuch aus den frühen 1970er Jahren hervorgeholt: Wilhelm Reichs “Die sexuelle Revolution”, zuerst erschienen 1936, im Westen 1966 neu aufgelegt und damit eines der Bücher, die im Westen zu dieser Zeit heftig diskutiert wurden. Im Osten erschien es nie. Und nun, 40 Jahre nach dem ersten Lesen, ist Eckert selbst verblüfft, was er da überlesen hatte – wie sehr Reich ausgerechnet die Jugendlager des Stalin-Reiches als Vorbild für seine sexuelle Revolution gedacht hatte. So kann man sich täuschen in der Zeit.

Trotzdem passierte da einiges in Ost wie West, das die verklemmten, kleinbürgerlichen Vorstellungen (die oft genug auch noch mit harten Strafparagrafen untersetzt waren) nach und nach löste, ihnen die Macht nahm und eine zunehmend liberalere Sicht auf alles, was Liebe, Partnerschaft, Sex und Tabus betraf. Ein langer, ereignisreicher Weg, der jetzt in den vielen Schubladen des kleinen Kabinetts beispielhaft nachgezeichnet wird. Mit Originaldokumenten, die zeigen, welche zuweilen seltsamen Formen die sexuelle Befreiung annahm. Bis hin zur Übertreibung der Gegenwart, in der einem eben nicht nur Porno-Seiten im Internet oder verquaste Musik-Clips einreden wollen, es sei nicht nur alles erlaubt, sondern man sei gar nicht mehr gesprächsfähig, wenn man nicht alles von sich preisgibt. Auch das wieder ein Mythos, der durch Umfragen widerlegt ist. Und der Fragen aufwirft: Wer produziert eigentlich solche Mythen?

Dass sie das Geschäft einiger dubioser Firmen ankurbeln, keine Frage. Immer wieder springen mehr schlecht als recht begabte Autoren und Autorinnen auf den Zug auf, präsentieren mal völlig schamlose “Feuchtgebiete”, mal literarisch dünnblütige “Shades of Grey”. Bücher, die trotzdem millionenfach verkauft werden. Kann es sein, dass sie tatsächlich eine Lücke füllen, ein unerfülltes Bedürfnis? Denn die Umfragen belegen auch, dass immer mehr Menschen in einer Single-Gesellschaft keinen Sex mehr bekommen und damit auch einen wesentlichen Teil menschlicher Erfüllung. Ihr Bedarf wird zum Markt einer völlig maßlos gewordenen Industrie.

Es sind sogar drei Länder, die in der Ausstellung thematisiert werden: die DDR, die alte BRD und und die neue, die alle drei ihre eigenen Mythen und Skandale haben um das ewigste aller Themen. Wobei die Ausstellungsmacher vor allem zu verblüffen scheint, wie ähnlich sich die DDR und die BRD in den 1950er und den frühen 1960er Jahren waren in Sachen Sexualmoral. Die Diskussionen um “Schmutz und Schund” (auch wenn es hüben anders hieß), ähneln sich. Die Äußerungen der Politiker, die auf beiden Seiten ein stockkonservatives Weltbild pflegten, sind fast deckungsgleich. Und es waren keine staatlichen Innovationen, die die beiden Gesellschaften aus ihrer Verklärung von Partnerschaft, Jungfräulichkeit und heiler Familie herausprügelten. Dafür sorgten augenscheinlich drei ganz andere Faktoren: die Wissenschaft, die Chemie und die Wirtschaft.Wissenschaft – das war der Kinsey-Report, der als erste große Erhebung zeigte, was in den Schlafzimmern der US-Amerikaner tatsächlich geschah. Die ganze nach außen zur Schau getragene Sittenstrenge entpuppte sich als Farce. Noch stärker aber hat wohl (Chemie) die Anti-Babypille dafür gesorgt, dass gerade die jungen Frauen ein neues, unverkrampftes Verhältnis zum Sex gewinnen konnten. Denn so lange es nicht in ihrer Hand lag zu bestimmen, ob aus dem Sex auch ein erfüllter Kinderwunsch werden konnte, waren sie die Hauptopfer der öffentlichen Verurteilung gewesen. Und die Sittenrichter der 1950er Jahre waren keinen Deut besser als die zu Goethes und Gretchens Zeit. Und der dritte Faktor kam besonders in der DDR zum tragen: der enorme Bedarf an Frauen in der Wirtschaft, der binnen weniger Jahrzehnte zumindest hier eine Art Gleichberechtigung (plus Doppelbelastung) erzeugte – und den Frauen ein ganz anderes Selbstbewusstsein verschaffte.

Viele von ihnen empfanden gerade den Bruch 1990 als einen echten Rückfall in überwunden geglaubte Zeiten. Und nicht nur Frauen empfanden es so. Nicht weil die DDR wirklich als das sexuell befreitere Land empfunden wurde, was es auch nie war. Aber das hereinschwappende alte Denken von der Frau als Heimchen am Herd empfanden auch Männer als frustrierend, erst recht, als mitsamt dieser fadenscheinigen Moral, die Frauen auch keinen sonderlich wichtigen Platz in den Entscheidungshierarchien der Republik einräumte, auch noch das bunt angemalte Ersatzangebot aufdringlich präsentiert wurde – nicht nur in nun auf einmal überall entstehenden Porno-Shops und Bergen von Porno-Zeitschriften. Man kann keinen Fernseher mehr anschalten, ohne dieser kreischenden sexuellen Anmache zu begegnen und auch keine scheinbar seriöse Nachrichtenseite. Es ist, als würden es die Produzenten dieser Medien gar nicht mehr merken, was sie da tun.

Vielleicht glauben sie ja selber, dass wir in schamlosen Zeiten leben und jeder, der “Nicht mit mir” sagt, nicht mehr dazu gehört. Wie gesagt: Die Umfragen sagen etwas anderes. Und wahrscheinlich empfinden heute nach wie vor die meisten Menschen Sex und Liebe als das Allerprivateste und Allerintimste, das man eben nicht mit jedem teilt, schon gar nicht mit der Öffentlichkeit oder irgendwelchen Internetkonzernen.

“Werteverfall oder Freiheitsgewinn?” ist eine der Fragen, die sich die Ausstellungsmacher gestellt haben. Denn unverkennbar war die Abschaffung einstiger Gängel- und Verbotsparagrafen ein wichtiger Schritt hin zu einem freieren Erleben von Liebe und Sexualität. Aber beschämend – ganz im Sinne des Wortes – wird es fast überall dort, wo Sex zur Ware gemacht wird, wo nicht nur gegelte Medienmogule ihr zumeist doch recht inhaltsleeres Angebot mit “Sex sells!” unter das Volk bringen und selbst die lächerlichste Brause oder ein billiges Stück Kleidung mit mageren und halbnackten Models angepriesen werden. Sex im Verramsch sozusagen, ohne dass die Käufer der Ware auch nur noch in die Nähe echter sexueller Begegnung kommen.

So gesehen ein mehr als verdientes Fragezeichen hinter “Schamlos?” und ein fehlendes Fragezeichen hinter “Sexualmoral im Wandel”.

Die Ausstellung, in der man in aller Ruhe eine Schublade nach der anderen aufziehen kann, zeigt eben nicht nur den zum Teil sehr verschlungenen Weg durch die vergangenen Jahrzehnte, sondern auch die problematischen Wege der Gegenwart – mit dem neuerlichen Diskussionshöhepunkt um “social freezing”. Dafür steht extra eine große Plastiktonne vor dem Ausstellungskabinett, in die jeder Besucher seine Meinung in niedergeschriebener Form einwerfen kann.

900 Ausstellungsobjekte bietet die Ausstellung. Und auch sie bieten nur einen Ausschnitt all der Verästelungen des Themas: “Die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, die Änderung von Rollenbildern sowie die zunehmende Kommerzialisierung von Erotik und Sexualität sind nur einige Aspekte der Ausstellung. Film- und Tondokumente, Plakate und Objekte wie ein als Geheimversteck für einen Erotikversand-Katalog umgebautes Buch, eine von Feministinnen getragene lila Latzhose oder ein in der DDR ausschließlich für den Export produziertes erotisches Kartenspiel veranschaulichen die Bandbreite der Themen und lassen rechtliche und kulturelle Veränderungen im Bereich Sexualität und Moral deutlich werden.”

Aber halt auch die Bruchkanten, an denen private und staatliche Moral aufeinanderprallen, an denen selbsternannte Tugendwächter die Skandale lostreten oder an denen clevere Unternehmen sich die Mangelerfahrungen einer Gesellschaft zu nutze machen, die hinter einem Feuerwerk der Schamlosigkeiten immer weniger Freiräume für ein geschütztes Privatleben bietet.

“Schamlos? Sexualmoral im Wandel”, Ausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig (Grimmaische Straße 6) vom 14. November 2014 bis zum 6. April 2015.

www.hdg.de

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