Den Festschmaus, zu dem (Buch-)Professor Siegfried Lokatis einlud am Montag, 27. Oktober, haben wir leider verpasst. Da wurde mit einer Vernissage die Ausstellung "Bitte Wenden! Demontagebücher der finalen DDR" im "Pilot" (Ecke Bosestraße/Gottschedstraße) eröffnet. Ausstellung?, fragt sich der Passant. Sind doch nur Bücher. Alte Bücher noch zudem 25 Jahre alte.
Denn was in den Schaufenstern des Lokals liegt, sind – so Siegfried Lokatis – die “wirkungsmächtigen, dann aber vermüllten Bücher von 1989/90.” Das berühmte Jahr, in dem in der DDR fast alle möglich schien und in den Verlagen der DDR erst recht. Die meisten Bürger des Landes, die nun voller Sehnsucht auf die D-Mark und die Einheit warteten, bekamen das gar nicht mit, dass da etwas für die DDR-Buchwelt Einmaliges geschah.
“Es ist ja kaum bekannt, dass zum 1. Januar 1989 in der DDR das herkömmliche Druckgenehmigungsverfahren abgeschafft wurde. Viele erst 1990 erschienenen Bücher wurden nur deshalb genehmigt”, erinnert Siegfried Lokatis.
Selbst mit dem Wort “Druckgenehmigungsverfahren” werden die meisten Bürger und Leser damals nichts anzufangen gewusst haben. Großes Aufheben machte auch die DDR-Presse nicht darum, denn sonst hätte man in aller Breite über etwas diskutieren müssen, was es nach offizieller Lesart in der DDR nie gegeben hat: Zensur. Der “Sputnik” war ja 1988 auch nicht verboten worden, nur sein Vertrieb war untersagt worden. Und bei Büchern war es ganz ähnlich: Bevor ein Verlag sie überhaupt drucken lassen durfte, mussten sie von der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel genehmigt werden. Die war dem Ministerium der Kultur angegliedert und übte – tatsächlich Zensur aus.
Wobei nicht alle Schuld auf diese amtliche Zensurinstanz geschoben werden kann, wie ja Simone Barck und Siegfried Lokatis in ihrem Buch “Zensurspiele” so schön anschaulich erzählt haben. Oft saß der “eingebaute Zensor” auch schon im Verlag oder in der Partei oder dem Verband, denen der Verlag gehörte. Oder einer oder mehrere Gutachter betätigten sich selbst als grimmiger preußischer Zensor. Jedes Buch musste – bevor es beim Ministerium eingereicht wurde – von zwei oder auch manchmal mehr Gutachtern gelesen und bewertet werden. Da konnte schon allein die selbstgerechte Meinung eines Gutachters dazu führen, dass ein Buch gar nicht erst zur Druckgenehmigung eingereicht wurde.
Das Ergebnis waren ganze Berge von Manuskripten, die in den Verlagen der DDR schmorten, und die nicht veröffentlicht werden konnten oder durften oder bei denen selbst die Verlage kniffen, denn wenn sich erst nach Veröffentlichung ein hoher Parteibonze von einem Buch gestört oder beleidigt fühlte, führte das in der Regel zu wilden Kampagnen in den Presseorganen des Landes (Vorneweg öfter mal das “Neue Deutschland”, gern auch mal die “Junge Welt”) und oft genug auch zu Sanktionen gegen die etwas zu mutigen Verlagsleiter.
Eine Folge des Herbstes 1989 war freilich, dass dieses Druckgenehmigungsverfahren ab Beginn 1990 offiziell aufgehoben wurde. Und fast alle Verlage in der DDR nutzten diese Chance, um endlich all die Titel auf den Markt zu schmeißen, die sich in den 1980er Jahren bei ihnen angesammelt haben. Oder ganz und gar neue experimentelle Reihen zu starten, wie es der Aufbau Verlag mit “Außer der Reihe” tat, wo für die Literaturfreunde der DDR erstmals schwarz und weiß die junge Lyrik-Avantgarde (die Dichter vom Prenzlauer Berg eingeschlossen) gedruckt war. Daniela Dahns “Prenzlauer Berg-Tour” konnte endlich erscheinen, Paul Gratziks “Kohlenkutte” oder von Landolf Scherzer das Buch über einen Parteifunktionär in tiefster thüringischer Provinz, den er – für DDR-Verhältnisse schon ein Ausnahmetatbestand – während seines Arbeitsalltags begleitet hatte. Das Buch “Der Erste” war schon in den Vorjahren Gesprächsthema – wie so viele Titel, an denen Autoren und Verlage mit viel Herzblut arbeiteten und auf die die Leser warteten mit unendlicher Geduld.
Die hier genannten Titel stehen im Schaufenster mit dem Titel “Neue Öffentlichkeit: Störfälle der Systemkritik.” Regelrecht exemplarisch dafür ist das kleine Reclam-Bändchen von Volker Braun: “Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie”. Eins der Bücher, die in diesem Zeitenwechsel noch für Furore sorgten, weil sie den Zustand des Landes so literarisch lustvoll auf den Punkt gebracht haben.
Im Nachbarschaufenster heißt es: “Endspiele: Konkurrenz für Marx und Lenin”. Denn die Bücherflut 1989/1990 war auch von anderen Warte-Titeln geprägt, die die Verlage schon seit Jahren ins Programm nehmen wollten und von der zuständigen Behörde nur ein “Nein” bekamen. Allein der Leipziger Reclam Verlag überschüttete seine Leser mit einem Berg philosophischer Werke, die heute schlicht zum Normalprogramm einer gut sortierten Buchhandlung gehören, in der DDR aber schlichtweg fehlten – womit dann auch die Diskussion über Philosophie im Land fast komplett unterbunden war. Im Schaufenster stehen und liegen sie alle einträchtig nebeneinander: Nietzsche, Max Weber, Horckheimer, die Mitscherlichs, Wittgenstein, Levi-Strauss und Enzensberger. Und mittendrin das Buch, in dem viele Leser dieser ersten und letzten Stunde die Funktionsweise der DDR und ihres Staatsapparats beschrieben sahen, auch wenn die Autoren die Hierarchien ihres eigenen Landes, der USA, gemeint hatten: Lawrence J. Peter und Raymond Hulls “Das Peter-Prinzip”.
Das Pech für die Verleger im Osten: Sie hatten nur ein halbes Jahr, in dem sie nachholen konnten, was ihnen Jahrzehnte lang verwehrt war. Viele dieser Titel, auf die die Leser so lange gewartet hatten, gerieten dann nach der Währungsunion im August 1990 in die Mühlen, wurden von Buchhandlungen bergeweise in Containern entsorgt und hatten auch keine Chance mehr, ihre Wirkung zu entfalten. Aus Lesersicht ein Drama. Ein doppeltes. Denn gleichzeitig öffnete sich ja die gigantomanische Bücherwelt des Westens, die mit einem Schlag sichtbar machte, was alles in der DDR gänzlich unerreichbar gewesen war.
Die Schaufenster im “Pilot” erzählen also eine kleine, dramatische Geschichte, die natürlich mit der Entsorgung vieler Buchtitel (darunter natürlich auch Vieles, was auch damals keinen mehr interessierte) nicht endete. Einige – und zumeist die begnadetsten Autoren – fanden nach 1990 einen neuen Verlag, eine neue Rolle und neue Aufmerksamkeit. Anderes ist zu Unrecht vergessen und wartet teilweise auf einem kenntnisreichen Wiederentdecker.
Es lohnt sich also, einmal nachdenklich vor den “Pilot”-Schaufenstern stehen zu bleiben und darüber zu sinnen, wie sehr Bücher zur Demontage der DDR beigetragen haben – um dann selbst Opfer der Demontage der DDR zu werden.
Leipzigs Buchwissenschaftler:
www.uni-leipzig.de/~buchwiss
Die “Hauptverwaltung Verlage” auf Wikipedia:
http://de.wikipedia.org/wiki/Hauptverwaltung_Verlage_und_Buchhandel
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