"Gott mit uns?", heißt die Ausstellung, die das Stadtgeschichtliche Museum am Dienstagabend, 21. Oktober, im Böttchergässchen eröffnet hat. "Gott mit uns" stand auf den Koppelschlössern der deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, den manche auch als zweiten Teil des einen großen Dreißigjährigen Krieges, der 1914 begann, begreifen. Auch Dr. Volker Rodekamp tendiert ein bisschen zu dieser modernen These. Und lädt zum Nachdenklichwerden ein.
Denn eines ist die neue Schau im Stadtgeschichtlichen Museum auf keinen Fall: eine Heldenerzählung zum Großen Krieg, der erst Jahrzehnte später die Nummer 1 bekam. Auch keine Technikschau oder eine Bebilderung der Kriegsschauplätze. “Gott mit uns” steht auch in riesigen Lettern am Leipziger Völkerschlachtdenkmal, direkt überm Erzengel Michael. Für Steffen Poser also direkt über seiner Arbeitsstätte, der Ausstellung zur Völkerschlacht. Mit Schlachten kennt er sich aus. Er hat auch die Ausstellung “Gott mit uns?” kuratiert.
Es sollte eine richtige Leipziger Ausstellung werden. Material liegt genug im Archiv des Stadtmuseums. Der Krieg hat auch die wachsende Industriestadt Leipzig getroffen, 624.845 Einwohner wurden 1914 gezählt, als 100 Jahre Frieden beendet wurden, stellt Poser fest. Was zumindest für die Region Sachsen galt, wo seit 1813 keine Schlachten mehr geschlagen worden waren. Für die Bevölkerung eine historisch einmalig lange Friedensphase.
Und nicht nur Museumsdirektor Dr. Volker Rodekamp beschäftigt die Frage: Wie kann eine Bevölkerung, die in Frieden lebt, binnen so kurzer Zeit für einen der verheerendsten Kriege der Geschichte “begeistert” werden? Wie geht das? Wie können Tausende junger Männer auf einmal derart begeistert in den Krieg ziehen und ins große Sterben?
Am 28. Juli 1914 wurde mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien ein Brand entfacht, der innerhalb von vier Jahren weite Teile der Welt erfassen sollte. An seinem Ende standen rund 17 Millionen Tote sowie 20 Millionen Verstümmelte und Verwundete. Der Große Krieg beendete das lange 19. Jahrhundert des bürgerlichen Zeitalters. Er entließ Millionen desillusionierter Menschen in eine unsichere Zukunft inmitten einer Welt verwüsteter Landstriche, am Boden liegender Volkswirtschaften und desolater sozialer Verhältnisse. Die “Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts” (George F. Kennan) erschütterte die Welt in ihren Grundfesten und legte mit ihren Auswirkungen den Keim für kommende Desaster.
Viele der großen Entwicklungsstränge des 20. Jahrhunderts von totalitären Systemen, Wirtschaftskrisen, dem Auf- und Abstieg neuer Weltmächte sind ohne den Großen Krieg nicht zu verstehen. So, wie jener Krieg in seinem massenhaften Einsatz von Kriegsmaschinen, Tanks, U-Booten, Fluggeräten und Schlachtschiffen das industrielle Zeitalter reflektiert, diente auch das mittlerweile weit verbreitete moderne Mittel der Fotografie für jedermann dazu, Erinnerungen an ein weltumspannendes Ereignis im Bild festzuhalten.Am 2. August verließen die Leipziger Infanterieregimenter König Georg Nr. 106 und Prinz Johann Georg Nr. 107 die Stadt Richtung Front. Die Ausstellung stellt fotografische Erinnerungen der beiden Leipziger Truppen vor. 450 Fotografien aus einem 52 Seiten dicken Fotoalbum, das irgendwann in den frühen 1920er Jahren ein Soldat aus dem 106. Infanterieregiment für seinen Vorgesetzten zusammengestellt haben muss. Kein reales Kriegstagebuch also, wie Steffen Poser betont, sondern eine gezielte Auswahl, die vor allem zeigt, wie sich die Soldaten mit dem Krieg und dem Leben im Schützengraben arrangiert haben. Die Bilder leichenübersäter Schlachtfelder fehlen, Schlachtszenen sowieso, keine Leichen und Verwundeten sind zu sehen. Und nur wenige Friedhofsbilder erinnern daran, dass auch die beiden Leipziger Infanterieregimenter mitten in den heftigsten Gemetzeln eingesetzt waren.
In den ersten Kriegstagen befanden sich die deutschen Truppen im Westen auf dem Vormarsch. Sächsische Truppen spielten dabei in der Schlacht bei Dinant eine schändliche Rolle, als sie am 23. August 674 Zivilisten in der belgischen Stadt töteten. Anfang September 1914 waren die Leipziger Regimenter an der Marneschlacht beteiligt, die einen ersten Wendepunkt im Krieg markierte. Die deutschen Truppen wurden zum Rückzug gezwungen. Die Westfront erstarrte im Stellungskrieg.
Im März 1915 wurde die 58. Infanterie-Division gebildet, zu der auch die Leipziger Truppen gehörten. Diese stand am 19. Juli 1915 in Nordfrankreich, als der Befehl zum Abtransport eintraf. Wenig später erreichte sie die russische Grenze. In den folgenden zwei Jahren erfolgten mehrere Wechsel zwischen Ost- und Westfront. Mit dem Waffenstillstand am 11. November 1918 begann die Räumung des von den sächsischen Truppen besetzten Gebietes. Ab 15. Dezember trafen die nach Leipzig heimkehrenden Truppen auf dem Marktplatz ein.
Am 15. Dezember 1918 entstand auch das Foto von der Begrüßung heimgekehrter Leipziger Truppenteile auf dem Marktplatz, fotografiert von Hermann Walther. In der Ausstellung ist es ganz groß aufgezogen und gleich neben dem riesigen Ehrenteppich zu sehen, der damals am Turm des Alten Rathauses hing und mit dem Spendengelder eingesammelt worden waren für die verwundeten und getöteten Soldaten und ihre Hinterbliebenen. Für die Soldaten, die da auf dem Markt standen, war es eine seltsame Situation. Kurz zuvor noch hatten sie an der Front gestanden – bis sie aus den Stellungen gerufen wurden und ihnen der Waffenstillstand verkündet wurde. Und bei der Heimkehr kehrten sie in ein anderes Land zurück, aus dem Kaiserreich war eine Republik geworden.
Insgesamt 5.293 Leipziger Soldaten fielen im Ersten Weltkrieg, 14.022 wurden verwundet und 1.831 galten als vermisst.
Viele der zurückgekehrten Soldaten würden sich bald auf unterschiedlichen Seiten gegenüber stehen – einige würden im Arbeiter- und Soldatenrat für die Revolution auf die Straße gehen, andere in diversen Freikorps die Republik bis zum bitteren Ende bekämpfen. In diesem Kriegsende 1918 steckte schon der nächste Krieg.
Also doch nur ein langer, dreißigjähriger Krieg mit der Weimarer Republik als Zwischenkriegszeit, wie Rodekamp meint?
Eine Ausstellung zum Nachdenklichmachen soll es sein.
Die Ausstellung verzichtet bewusst auf detaillierte Informationen zu Geografie, Details von Bewaffnung und Ausrüstung sowie Angaben zu den jeweiligen militärischen Operationen. Für Kriegs-Schau-Touristen ist das alles nichts. Und das Tagebuch des unbekannten Unteroffiziers, aus dem die 450 Fotos – in maßstabsgerechter Vergrößerung – an die Wand gepinnt sind? – In ihrer Abfolge von entspannt posierenden Soldaten, idyllischen Landschaften und anheimelnden Schützengrabengemeinschaften dokumentieren die Bilder eben nicht den Krieg in seiner Abnormität. Selbst dort, wo die Kamera verwüstete Landschaften und zertrümmerte Häuser festgehalten hat, kommen die Fotografien mit der Attitüde touristischer Schnappschüsse von den Merkwürdigkeiten der weiten Welt daher. Ohne Kommentierung wird die Absurdität der Bilder, die den Krieg eher als Männerabenteuer darstellen, deutlicher.Man erfährt nicht, welcher der abgebildeten Soldaten gefallen ist. Selbst die Bilder aus den Gräben und Unterständen suggerieren Idylle. Zumindest den Versuch, sich im Kriegsgeschehen bestmöglich einzurichten. Die großformatigen Fotos von Leipziger Profi-Fotografen zeigen die Leipziger Ereignisse dazu – von der Verladung Leipziger Soldaten des 106. Infanterieregiments 1914 auf dem Freiladebahnhof über die Ausstellung von erbeuteten Kanonen und einem Tank auf dem Markt bis hin zu diesem Marktbild im Dezember 1918. Auch das alles Teil der Kriegs-Bilderwelt. Die Beutestücke auf dem Markt sollten auch dann noch, als der Krieg an den Fronten längst feststeckte, den Sieg suggerieren, mit dem die Truppen heimkehren würden. Die offizielle Berichterstattung war zensiert, im Grunde – da sie auf Heeresberichten beruhten – eine einzige Irreführung. Niemand sollte im Land wirklich wissen, wie es stand. Auch das gehört zu dem Bild der Enttäuschung, das viele Kriegsteilnehmer hatten, als sie zurückkehrten.
Die Bilder aus dem Album verstören trotzdem. Man weiß ja um das Grauen. Doch zu sehen ist nichts davon. Und auch weil dieser Krieg bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts nie wirklich gründlich reflektiert wurde, hat er gerade in letzter Zeit eine ganze Flut von Medienberichten, Büchern und Ausstellungen ausgelöst, die ihn neu und in größeren Zusammenhängen zu begreifen versuchen. Und das sei hochaktuell, so Rodekamp.
Nur ein kleines Häuflein von Exponaten in der Raummitte bringt die Kriegsausrüstung ins Bild. Quasi als Zitat. Eine Wand zeigt Plakate aus einem Künstlerwettbewerb des Jahres 2014, deren Thema der 100. Jahrestag dieses Kriegsbeginns ist. Eine Stellwand zitiert auch das 1917er Tagebuch eines Leipziger Soldaten. Der Raum soll, so Rodekamp, ein Raum der Assoziationen sein. “Ratlosigkeit ist beabsichtigt”, sagt er.
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Was man durch Steffen Posers Anmerkung ergänzen kann: Ist da nicht eigentlich eine ganze Zeit verrückt geworden? Wie sonst kann man diesen bereitwilligen Zug ins große Schlachten verstehen? Oder versteht man es, wenn man den gigantischen Ehrenteppich sieht, das Prunkstück in der Ausstellung, 1917 angefertigt und zuletzt 1933 öffentlich gezeigt. Seit 80 Jahren ist er erstmals wieder öffentlich zu sehen – mit Ritter und Siegesgöttin, Wappen und Löwen. Die Ästhetik einer Zeit, die durchaus den Frieden schon genutzt hatte, um den Krieg und das “Sterben fürs Vaterland” zu romantisieren. Auch das gehört dazu.
Zu sehen ist die Ausstellung “Gott mit uns?” vom 22. Oktober 2014 bis zum 4. Januar 2015. Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, Feiertage 10 – 18 Uhr, 24.12. und 31.12. geschlossen.
Nächste Veranstaltungen in der Ausstellung:
Dienstag, 28. Oktober, 19 Uhr: Johannes Mühler “Bewahrte Augenblicke. Aus den Familienalben eines Leipziger Fotografen”. Ausgewählt und kommentiert von Katrin und Klaus Sohl, erschienen im Eudora Verlag Leipzig.
Donnerstag, 30. Oktober, 18 Uhr: Film “Im Westen nichts Neues”, USA 1930, Regie: Lewis Milestone, mit Lew Ayres, Beryl Mercer, 140 min, ab 12 Jahre, in Kooperation mit dem Landesfilmdienst Sachsen e. V.
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