Essen und Trinken hält Leib und Seele beisammen - und eine ganze Nation. Nur der erste Blick verblüfft: Was hat das Zeitgeschichtliche Museum jetzt auf einmal mit Obst, Fleisch und Eiern zu tun? Ist es zum Kochmuseum mutiert? - Beim Zweiten macht's dann klick. Nichts prägt unseren Alltag so sehr wie Essen und Trinken. Die Schlagzeilen schreien Hunger, Diätwahn, Fresssucht. Essen und Trinken sind Alltag und Alltagsgeschichte, 60 Jahre eine Revolution.

Am Donnerstagabend, 16. Mai, wurde die Ausstellung “Is(s) was?!” im Zeitgeschichtlichen Forum eröffnet. Gastrednerin war eine Journalistin, die wie keine andere weiß, wie sehr Essen und Trinken auch Politik und Zeitgeschichte sind: Jutta Voigt. 2005 veröffentlichte sie im Kiepenheuer Verlag den Klassiker “Der Geschmack des Ostens”. Der auch etwas wieder ins Bewusstsein rückte, was einem Mann wie Prof. Rainer Eckert, dem Leiter des Zeitgeschichtlichen Forums, noch sehr vertraut ist: Der Osten hatte seine ganz besonderen Geschmacks- und Geruchsnuancen. Fast alles davon ist verschwunden. Und was als “Ostprodukt” Wiederauferstehung feiert, tut’s in der Regel mit anderen Zutaten und neuer Rezeptur. Die “Schlagersüßtafel” des Jahres 2013 hat mit der von 1983 nur noch das Design gemeinsam.

Aber nicht nur der Geschmack des Ostens verschwand in der großen Zeitenwende. Auch der ganz besonderen Geruch von Westpäckchen und Intershop, der für DDR-Bürger auch immer die Verheißung einer exotischen Welt war, ist verschwunden. Die Supermärkte riechen nicht mehr so. Sie heißen auch anders. Die Rückschau macht schnell bewusst, wie sehr sich auch die Konsumwelt der Deutschen seit 1945 verändert hat. Die ganz Alten wissen es noch, was richtiger Hunger ist und Nahrungsmittelknappheit. Sie kennen noch die Zeit der Krämerläden, der kleinen Lebensmittelgeschäfte.

Aber auf keinen Fall sollte die neue Ausstellung die übliche Schleife Ost/West werden, betont Dr. Anne Martin, Projektleiterin der Ausstellung, das Anliegen dieser Sonderschau, die sich auf knapper Fläche (400 Quadratmeter) intensiv mit der rasanten Umwälzung der deutschen Esskultur in den letzten 60 Jahren beschäftigt. “Ich kann mich nach daran erinnern, wie mein Vater von der Arbeit jeden Tag zwei Stunden zum Mittagessen nach Hause kam. Und meine Mutter hat gekocht. Das war normal damals”, erzählt Hans Walter Hütter, Präsident der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (HDG), zur Eröffnung der Ausstellung, die von den Leipziger Ausstellungsmachern für das HDG geschaffen wurde. Heute wäre das ein Ding der Unmöglichkeit. Die Arbeitswelt hat sich radikal verändert. Man arbeitet ohne richtige Pause. Niemand geht zum Mittagessen extra nach Hause. Eine eigene Kantinen- und Mensakultur hat sich entwickelt. Aber auch das genügt oft nicht. Fastfood prägt auch den Arbeitsalltag vieler Deutscher.

Es wird im Stehen und Gehen gegessen. Auf Straßen, in Zügen, S-Bahnen und Vorlesungssälen, wie Rainer Eckert zu berichten weiß, der an der Uni Leipzig auch Vorlesungen hält. Für ihn natürlich eine Frage des Respektes. Aber in der Ausstellung, die in vielen kleinen mit Objekten, Bildern und Monitoren gespickten Räumen alle Facetten der Ernährungskultur zeigt, wird auch deutlich: Die Esskultur reagiert zwangsläufig auf die veränderten Arbeits- und Bildungswelten. Auch die deutschen Hochschulen sind zu Bildungs-Produktions-Betrieben geworden. Das Wort ‘verkommen’ drängt sich von allein auf. Denn dahinter steckt ja ein Handeln, das weder über die Folgen noch die Notwendigkeiten nachdenkt. Da wird auf Effizienz getrimmt, werden Sparrunden verordnet aber gleichzeitig schnellere Durchlaufzeiten und höhere Durchlaufquoten verlangt.
Wer etwas genauer hinschaut, sieht eine ganze Welt, die jeden Teil unseres Lebens zunehmend beschleunigt und auf Effizienz trimmt. Dass das unsere Ernährung nicht ausklammert, ist zwangsläufig. Der heimisch waltenden Hausfrau bescherte es immer modernere Küchenmaschinen, die man Anfangs noch so nannte. Heute verkleistert man die Bedeutung dieser elektrischen Geräte ja auch mit schönen Labels. Aber auch die Verwandlung der Lebensmittelläden in Supermärkte und Discounter sind ja Teil dieser auf Geschwindigkeit getrimmten Welt. Wer am einen Ende die Bedingungen verändert, erzwingt gleich eine ganze Folge von Veränderungen. Die Leipziger Stadtbaupolitik hat das bis heute nicht begriffen – die bundesdeutsche übrigens auch nicht.

Die Gegenbewegungen gibt es längst. Nicht alle Menschen lassen sich alles gefallen. Seit den 1970er Jahren ist Bio-Kost im Aufwind – oder im Auf-Lüftchen, auch wenn mittlerweile jeder Supermarkt seine Bio-Ecke hat. Mit den zugehörigen Skandalen. Denn wenn trotzdem das Diktat von Masse, niedrigen Herstellungskosten und Verfügbarkeit zu jeder Zeit gilt, dann machen sich auch die Handlungszwänge geltend, die nun schon seit Jahren für immer neue Lebensmittelskandale sorgen. Preiskartelle bei Kartoffeln, Pferdefleisch in lauter zusammengemixten Fleischprodukten, Dioxin, Medikamentenrückstände und Insektengifte auf und in der bunt verpackten Nahrung … das alles erzählt von einer mittlerweile weltumspannenden Nahrungsmittelindustrie. Natürlich ist beim Gang durch die Ausstellung schnell der Film “We feed the world” von Erwin Wangenhofer (2005) präsent.

Den Lebensmittelskandalen ist ein eigener Raum gewidmet in der Ausstellung, den Verlautbarungen zum “richtigen Essen” auch – mit einem fröhlichen Schwein in der Mitte. Denn nichts ist in den letzten Jahren so sehr in Verruf geraten wie die Massentierhaltung. Die nur Sinn macht mit dem überbordenden Fleischverzehr der westlichen Staaten. Wenn man sich des Wertes von Fleisch nicht mehr bewusst ist, isst man natürlich auch minderwertiges Fleisch. In Massen.

Aber auch dazu gibt es schon längst Gegenbewegungen: Vegetarier, Veganer oder auch Menschen, die aus Prinzip nur noch kaufen, wo sie die Herkunft der Produkte kennen – auf regionalen Märkten.

Was auch den Handel wieder verändert. Jenseits der immer gigantischeren Supermärkte, in die man mit riesigen Einkaufskörben hineinfährt “und am Ende das ganze Zeug vom Wochenendeinkauf nicht mal mehr in den Kofferraum kriegt” (Hütter) entstehen wieder kleine Spezialitätenanbieter, in die man auch wieder gern hinein geht. Hütter findet die vielen Wein-Spezialgeschäfte in der Leipziger Innenstadt erwähnenswert. Er kommt ja aus Bonn. Vielleicht ist dort alles schon schlimmer.
Natürlich ist die Internationalisierung unserer Küche nicht wirklich schlimm. Als 1952 in Würzburg die erste Pizzeria in Deutschland eröffnete, war das der Beginn einer echten Bereicherung. Heute geht man selbstverständlich zum Italiener, Chinesen, Jugoslawen oder Inder. Und draußen in der Welt findet man Restaurants, die deutsche Küche als etwas Exotisches anpreisen. “Dafür muss man heute wohl extra nach Mallorca fliegen, um eine Bratwurst zu bekommen”, grummelt Hütter. “Wir essen hier ja nicht mal mehr Kassler.”

Vielleicht ist es in Bonn wirklich so schlimm. In Leipzig bekommt man nicht nur Currywurst, sondern auch Thüringer Bratwurst auf der Straße. Und die heimischen Restaurants werben lieber mit sächsischer Küche als mit “deutscher Hausmacherkost”. Die findet man dann eher in Gartenkneipen und den letzten Überlebenden der einstigen Leipziger Kneipenkultur.

Über die schon lange ein Buch fehlt.

Aber wer schreibt ein solches Buch, wenn er sich der Verluste nicht bewusst ist?

Was aber nicht nur Hütter bemerkt: Zum Trend der zunehmenden Internationalisierung gibt es auch bei unserer Esskultur den Trend hin zu Regionalisierung. Das bildet sich auch in den unzähligen Kochsendungen im Fernsehen ab, in gigantischen Bergen immer neuer Kochbücher, in Restaurantführern und Diät-Ratgebern. Denn auch das gehört zu dieser hochgetourten Ernährungswirtschaft – die intensive Beschäftigung mit Übergewicht, falscher Ernährung, leichter und schwerer Kost. Wenn man erst mal anfängt, drüber nachzudenken, entpuppt sich unsere Ernährung als allgegenwärtiger Stör- und Streitfall. Selbst wenn wir nicht ständig drüber reden, ist Essen und Trinken so präsent wie das Wetter.

Wir lernen das Kleingedruckte zu lesen, stimmen über Schwindel-Verpackungen ab, versuchen Fett und Zucker zu meiden. Und machen uns dann auch noch über ein Thema Gedanken, das wir meist verdrängen: die wichtige gesellschaftliche Rolle des gemeinsamen Essens. Da stellte denn auch Rainer Eckert fest, dass er doch meistens ein “einsamer Esser, Kochmuffel und Ernährungsdilettant” ist. Er steht dazu, will es aber ein bisschen ändern.

Die Ausstellung, die ab dem 17. Mai im Zeitgeschichtlichen Forum zu sehen ist, zeigt jedenfalls auf erstaunlich kompakte Weise, was alles in diesem Thema steckt und wie sehr Essen und Trinken nicht nur Alltagsgeschichte, sondern auch Kultur- und Wirtschaftsgeschichte sind. Eine Ausstellung, die vielleicht genau auf den Punkt gesetzt ist. Denn die Warnung Wagenhofers, dass wir mit der derzeitigen Wirtschaftsweise die Erde verschlingen, steht nach wie vor im Raum.

Und die Ausstellung zeigt – mit über 1.200 Exponaten – wie sehr ein auf drastische Effizienz getrimmtes Wirtschaftsdenken unsere Gesellschaft deformiert bis hin zu unserer Nahrung und unserem Essverhalten. Natürlich hat Eckert recht, wenn er das Wort Respekt in den Raum wirft. Aber die Respektlosigkeit wurzelt viel tiefer. Tief in unserer Psyche. Auch dass steckt ja hinter dem flapsigen Titel der Ausstellung “Is(s) was?!” – Natürlich ist was. Und das hat viel mit unserem Essen zu tun. Und wer drüber nachdenkt, weiß es auch: Wir sind, was wir essen.

Und da passt dann selbst der Spruch von Voltaire, der den Eintretenden gleich am Eingang empfängt: “Ich habe gefunden, dass Menschen mit Geist und Witz auch immer eine gute Zunge besitzen, jene aber mit stumpfem Gaumen beide entbehren.”

http://de.wikipedia.org/wiki/We_feed_the_world

www.hdg.de/leipzig

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