"Jeder Mensch ist ein Politiker", behauptete Anke Sondhof 2009. Da startete die Künstlerin aus Niedersachsen ihr Kunstprojekt: "Jeder Mensch ist ein Politiker" - (Kunst)Wahlkabinen 2009-2013. Seit dem 13. Juni ist es im Treppenhaus des Hauses der Demokratie in Leipzig zu sehen. Und auszuprobieren. Die Wahlkabine, die wie ein Kokon aussieht, lädt nicht nur zum Betreten ein. Man darf auch draufschreiben. Man hat die Wahl.
“Ich möchte, dass sich Menschen stärker über ihre Entscheidungen bewusst sind”, sagt Sondhof. “Ständig wird gewählt zwischen verschiedenen Möglichkeiten und so die Welt / das Leben gestaltet.” Und da jammern die Leitartikler bei jeder Wahl über Wahlmüdigkeit! – 2009 war übrigens, fast hat man’s vergessen, “Superwahljahr”. Nicht nur die Bundesregierung wurde neu zusammengewählt – am Ende im Bienenmuster Schwarz-Gelb, dasselbe geschah in Sachsen. Auch da gab’s Schwarz-Gelb. In Leipzig, wo der Stadtrat neu gewählt wurde, wurde es bunter. Wer die Wahl hat, hat die Qual.
Übrigens am 27. Januar 2013 wieder. Dann ist OBM-Wahl in Leipzig. Das Personal formiert sich. Auch die CDU kommt so langsam zu Potte. Mancher geht ja zu solchen Wahlen wie in den Lebensmittelladen. Man nimmt die Kandidaten als Produkt, vergleicht die schönen Verpackungen, das Lebendgewicht und (wenn sie draufsteht) die Zutatenliste. Hier ein bisschen Sicherheit, da ein bisschen Bildung, dort ein paar Einsparungen, hier ein wenig Nachhaltigkeit. Wenn man die Kandidaten mixen könnte, wäre es für manchen Wähler schöner.
Kann man aber nicht.
Das ist die Krux bei der Wahl. Und dann muss man damit leben. Wissend, es kann die falsche Wahl sein. Man denke nur an die letzte Bürgermeisterwahl der Düsseldorfer. Ein OBM, der an einer Loveparade-Katastrophe nicht die Bohne schuld gewesen sein will, ist auch nicht das Gelbe vom Ei.
Das Schöne an Anke Sondhofs Kokon, mit dem sie seit 2009 durch die Republik reist, ist: Er macht in ganz zufälligen Situationen deutlich, dass Menschen immer wählen. Wählen müssen. Zwischen Eierschecke und Kokoskuchen. Das geht noch. Zwischen Isabella und Marie – das ist schon schwieriger. Zwischen Party und Opernabend – das hängt vom gebotenen Programm ab. Zwischen Regenjacke und rosa Kostüm – das kann schief gehen. Manche wählen nur noch zwischen schlechten Fernsehprogrammen. Aber das sind viele. Und viele von denen gehen auch zu Bundestagswahlen, als ginge es nur um die Talkshow oder die Familien-Serie. Deswegen verwechseln auch viele Bundesbürger die Bundeskanzlerin gern mit ihrer Mama. Man möchte ja auch geliebt werden als Michel. Oder Micheline. Man möchte auch gern die Verantwortung los sein, wenn man nach dem Kraftakt aus der Wahlkabine kommt.
Und man möchte das Gefühl haben, für die nächsten vier, fünf oder sieben Jahre alles richtig gemacht zu haben. Und so lange auch nicht wieder behelligt werden. Deswegen gewinnen immer die bequemen Wähler die Wahl, nicht die, die danach auch noch weiter gefragt werden wollen.
Wollt ihr S21? – Die Unbequemen sagen dann meistens “Nö”. Die Bequemen sagen: “Ja, macht nur.”
Der Kokon ist also auch ein Widerspruch. Auch wenn er jetzt noch fast weiß aussieht. Die bunt bemalten Kokons von den vorhergehenden Stationen hat Anke Sondhof alle eingelagert. Sie sind übersät mit Sprüchen, Kommentaren und Wahlentscheidungen. Die erste Kabine stand 2009 übrigens in Gifhorn in der Fußgängerzone. “Umweltschutz ist Menschenschutz”, stand da zum Beispiel. “Das sollte Politik endlich begreifen.”
Man sieht: Der Wähler distanziert sich noch. Politiker sind die anderen – die Gewählten. Auch wenn der Bursche eben noch mein Theologielehrer war, unser aller Polizeipräsident oder der Professor mit dem exotischen Lehrfach. Man delegiert sozusagen die Politik – an unsere Vertreter. Die mancher gar nicht mit Namen nennen kann, so weit hat er sie wegdelegiert. Mancher kennt sie sehr gut und redet sie in Briefen und E-Mails mit Du an. Etwa so: “Damals hast du uns versprochen!”
So geht das.Oder geht der Wähler vielleicht eine Verpflichtung ein, wenn er in der Kabine sein Kreuz macht? Zum Beispiel, dass er sich die nächsten vier Jahre gar nicht alles gefallen lässt, sondern ab und zu mal Kaffee trinken will mit seiner Lieblingskandidatin oder seinem Kandidaten? Und ein bisschen fragt: Wie geht’s? Was macht unser Projekt?
Oder brauchst du Unterstützung? Kommst du nicht weiter? Macht dir die Arbeit für uns keinen Spaß mehr? Wo klemmt es? – Manchmal sollte man das als Wähler auch wissen. Auch, dass man seinem Mann, seiner Frau auf dem großen Spielfeld der Kompromisse helfen kann. Indem man selbst immer wieder neu wählt. Sonnenstrom zum Beispiel oder Wasserstrom. Schweinefilet oder doch lieber Porree? Billigflieger oder ICE. Der Mensch hat die Wahl. Seine Wahl beeinflusst die Welt.
Heute zum Griechen oder zum Japaner? – Gute Frage. – Die zweite Wahlkabine, die Anke Sondhof 2009 aufgestellt hat, stand im Restaurant “Suki Yaki” in Braunschweig. Da schrieb zum Beispiel einer in den Kokon: “Wir haben die Politiker (gewählt), die wir verdienen.” Auch so ist das. Wir können nicht hinterher so tun, als wären wir nicht beteiligt gewesen an der Wahl. Einige von uns wollten das so. In der Regel die meisten, auch wenn nicht die Meisten zur Wahl gehen und gern zu Hause bleiben, wenn’s wirklich ernst ist. Bei Kommunalwahlen zum Beispiel. Da kann jeder täglich in der Zeitung lesen, dass das kein Zuckerschlecken ist.
2010 stellte Anke Sondhof eine Wahlkabine in Wiesbaden vor ein Antiquariat. “Totaler Blödsinn”, schrieb da einer an die Kabinenwand, “nicht mal die sich so nennen, sind Politiker!” Auch das stimmt wohl. Denn gelernt hat den Job fast keiner. Einige haben Politikwissenschaften studiert. Und merken erst hinterher, das ein bisschen Management, Psychologie, Pädagogik und Juristerei auch nicht dumm gewesen wären. Politiker bekommen es ja von Amts wegen mit Profis zu tun. Und weil sie das Zeug nicht studiert haben, werden sie immer wieder gern über den Löffel balbiert – von Managern, Juristen, falschen Beratern. Die hat man ja auch in Leipzig herumspazieren sehen.
Eine Wahlkabine stellte Anke Sondhof im November 2010 zu den Protestierenden an der Castor-Transport-Strecke in Gorleben. “Wer Laufzeiten verlängert, der verkürzt seine Regierungszeit”, schrieb ein Michael da an die Kabine. Ein halbes Jahr später wurde die Laufzeitverlängerung aber flugs zurückgenommen. Stuttgart und Tübingen waren 2011 (Wahljahr) die nächsten Stationen.
Jetzt steht die Kabine im Leipziger Haus der Demokratie. Im Treppenhaus hängen Unruhen mit dem Bild von da Vincis “vitruvianischem Menschen” als Signet. Ein Bild, mit dem da Vinci die menschlichen Proportionen innerhalb von Kreis und Quadrat demonstrierte. Eine Zeichnung, die Krankenkassen gern verwenden, weil der Mann mit seinen Proportionen so schön gesund aussieht. Und die Italiener haben das Bild auf ihre Euro-Münze getan. So wie die Griechen die Athener Eule. Beide in der Hoffnung, dass sie mit dem Geld ordentlich was kaufen können.
Da wussten sie noch nicht, dass eine deutsche Bundeskanzlerin darüber mitbestimmen würde. Die sie gar nicht gewählt haben. Auch das passiert: Man bekommt es mit Leuten zu tun, die von anderen gewählt wurden. Von solchen zum Beispiel, die auf ihre Euro-Münzen den alten Reichsadler gepackt haben, weil sie gerade kein schöneres Bild an der Hand hatten. Vorschlag für die immer so missvergnügten Deutschen: von Lucas Cranach “Adam und Eva” von 1513. Das älteste Wahlmotiv der Welt. Wählen muss in dieser Szene Adam: Nimmt er den Apfel, ist das Paradies futsch für beide. Nimmt er ihn nicht, bleibt er doof.
Das passiert bei jeder Wahl. Irgendwie.
Wer die Gelegenheit nutzen will, findet die Wahlkabine bis zum 29. Juni im Haus der Demokratie (Bernhard-Göring-Straße 152) gleich im unteren Treppenhaus.
Das Kunstprojekt von Anke Sondhof ist bis 2013 geplant. Dann sollen alle beschriebenen Wahlkabinen zusammen mit Fotos in einer großen Ausstellung gezeigt werden.
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