Klar, die Thomasschule wurde nicht gleich 1212 gebaut. Und der Thomanerchor hieß auch zu Bachs Zeiten noch nicht Thomanerchor, sondern eher erst ab dem 19. Jahrhundert. Diesmal löchern ein paar wissbegierige Journalistinnen, die man bei profanen Stadtgeschichtsthemen eher nicht in Leipzig sieht, Kerstin Sieblist, die Musikkuratorin des Stadtgeschichtlichen Museums. Denn am Montag, 19. März, eröffnet eine 800-Jahre-Schau.

Bevor in drei Jahren die 1.000-Jahre-Schau beginnt. Leipzig kommt in die Jahre. Und 2012 feiern drei Urgesteine, Ur-Bausteine der Stadt, die es tatsächlich geschafft haben, so lange durchzuhalten – ohne Abwicklung. Vielleicht macht das die Leipziger so froh. Denn für gewöhnlich werden in Zeitenumbrüchen von den neuen Machthabern all die Dinge abgewickelt, die sie nicht mehr haben wollen. Klöster zum Beispiel, alte Zwingburgen oder Kirchen. Wie 1968, als auf Geheiß Walter Ulbrichts die 737 Jahre alte Paulinerkirche gesprengt wurde.

Fast vergessen: Sie ist beinahe so alt gewesen wie der Neubau der Thomaskirche, der ja erst entstand, nachdem 1212 das Augustinerchorherrenstift beurkundet wurde. Aus dem auch die Schola Thomana und damit der Chor der Thomasschüler hervorging. Das wird in diesem Jahr in drei Festwochen gefeiert. Dazu gibt es fünf verschiedene Ausstellungen. Eine wurde schon im Bach-Museum eröffnet, weitere werden im Musikinstrumentenmuseum, in der Universitätsbibliothek und in der Nationalbibliothek folgen.Und am Montag, 19. März, eröffnet die wichtigste und größte von allen im Neubau des Stadtgeschichtlichen Museums im Böttchergässchen. Seit zweieinhalb Jahren haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Museums an der Ausstellung gearbeitet, Fäden geknüpft, Exponate bestellt und sich die Frage gestellt: Wie machen wir das?

“Wir haben ganz schnell Abstand genommen von der üblichen Darbietung nach Thomaskantoraten”, sagt Kerstin Sieblist. “Wir haben uns stattdessen lieber überlegt: Was würde der Besucher wissen wollen?” Denn die Thomaner sähe man zwar bei Motetten und festlichen Ereignissen – nur hinter die Kulissen des Chores kann man eher selten schauen. Dorthin, wo sich seit 800 Jahren der Alltag abwickelt, der genauso spannend und oft prekär war wie das Leben auf der Bühne. Auch so ergibt sich eine 800-jährige Geschichte. Irdischer und spannender.Beginnend mit den kostbaren Schriften aus der Anfangszeit – auch die wertvolle Gründungsurkunde ist in der Ausstellung zu sehen, die frühen Gesangsbücher und – hoppla – eine Thomaskirche aus Holz. Die hat ein Leipziger Feuerwehrmann gebaut zwischen 1938 und 1954. “Für Ausbildungszwecke bei der Feuerwehr”, so Kerstin Sieblist. Die große Holzkirche leitet zur Gretchenfrage über. Ganz locker. Denn ohne Religion ist dieser Chor nicht denkbar. Auch wenn die Geschichte zweigeteilt ist – die katholische Zeit, in der die Knaben aus der ersten Leipziger Stadtschule die Gottesdienste noch mit gregorianischen Gesängen begleiteten. Danach die protestantische mit Bach und allen seinen Nachfolgern. Einige von ihnen gleich nebenan an einer großen “Kantorenwand” in Öl aufgehängt. Der jüngste unter den Geölten: Thomaskantor Hans-Joachim Rotzsch, der in der Ausstellung im Kapitel 8 “Musica sacra und Propaganda – Die Thomaner in der DDR” noch eine Rolle spielt. Hier nimmt er in einem Tondokument noch einmal Stellung zu seiner Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit, die ihm 1992 das Amt kostete.

“Wir wollten die Diktaturen auf keinen Fall aussparen”, sagt Kerstin Sieblist. Also gibt es dazu sogar drei Kapitel – eines zu den “Thomanern unterm Hakenkreuz”, als der Chor vor demselben Problem stand: Wie bewahrt man Tradition und Anspruch, wenn die aktuellen Machthaber alles ihrer Ideologie unterordnen wollen. Ein groß aufgezogenes Bild der Thomaner in HJ-Uniform soll noch aufgehängt werden.Am Freitag, 16. März, waren die Techniker des Museums noch am Einpassen, Einfügen, Aufhängen. “Ich hoffe ganz dolle, dass wir am Montag fertig sind mit allem”, sagt Museumsdirektor Dr. Volker Rodekamp.

Ein Kapitel zeigt die Thomaner auch als DDR-Exportschlager. Auch auf dem 9. Parteitag der SED sangen sie – das Lied vom Lindenbaum. Eine Kantate wäre zu der Gelegenheit tatsächlich eine Revolution gewesen. Der Rotzsch-Beitrag, so verspricht Kerstin Sieblist, verspricht zumindest einen neuen Denkansatz zu der Frage: Wie kann man so eine Institution über die Diktaturen retten, ohne sie völlig preis zu geben? Welchen Einfluss nahmen die Diktatoren?Die Ausstellung ist nicht nur mit Bilder gespickt. Es gibt auch eine Menge Technik im Raum, damit die Musik für die Besucher auch erlebbar wird. Acht “Klangduschen” ermöglichen das Eintauchen in verschiedene Epochen der Musikaufzeichnung seit 1931, dazu gibt es Filmmaterial – das älteste aus einem schwarz-weißen Stummfilm von 1940, etliches aus Fernseh-Aufzeichnungen zu DDR-Zeiten. Und als Höhepunkt der digitalen Kunst: eine 3-D-Animation, die im Zeitraffer die Baugeschichte des Thomasklosters und der heutigen Thomaskirche nachzeichnet. So kommt die Kirche doch noch ins Bild. Und beiläufig natürlich auch die Schule. Etwa im Kapitel 3, in dem erzählt wird, wie die kleinen Chorsänger auch singen mussten, um zu überleben.

Und weil das auch junge Besucher ansprechen soll, werden Comics die Einführungstafeln zu jedem Kapitel umrahmen. Die Tafeln hingen am Freitag noch nicht. Das Bangen des Museumsdirektors ist verständlich.

Und wer nach dieser singenden, klingenden Tour durch 800 Jahre Geschichte noch nicht fußlahm und angefüllt bis obenhin ist, der kann noch die Stufen ins Kabinett des Museums hinuntersteigen. Dort werden im Großformat die Fotografien von Gert Mothes gezeigt, der den Thomanerchor seit Jahren mit der Kamera begleitet. 40 Bilder zeigen das Leben der Chorknaben so lebendig und bunt, wie man es wohl noch nie gesehen hat. Hier begegnet die Meisterschaft des Fotografen einer quirligen Welt junger Menschen, die noch ein wenig Kind und dann doch schon wieder so ernsthaft wie Erwachsene sind. Eine große Tafel zeigt die aktuell 97 Sängerknaben alle noch einmal im Porträt.

Am Montag, 19. März, wird die Ausstellung “Cantate!”, die diesmal auch kräftig vom Land Sachsen unterstützt wurde, um 18 Uhr im Böttchergässchen 3 feierlich eröffnet. Sie ist auch Teil der Lutherdekade und wird wegen ihrer überregionalen Bedeutung länger gezeigt als andere Ausstellungen im Museums-Kubus: vom 20. März bis zum 23. September. “Ich hoffe auch ganz stark, dass ganz viele Leipziger kommen”, sagt Dr. Volker Rodekamp, “denn das ist ein Leipziger Thema.”

www.stadtgeschichtliches-museum-leipzig.de

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