Wer es sich organisiert, hat immer einmal im Jahr Gelegenheit, beim großen Atelierrundgang in die heiligen Werkstätten der Leipziger Künstlerinnen und Künstler zu schauen. Drei, vier schafft man, wenn man sich ranhält. Aber 107? - Christoph Sandig hat 107 geschafft. So viele sind ab heute im Stadtgeschichtlichen Museum zu sehen.
Am heutigen Dienstag, 25. Januar, um 18 Uhr wird die Ausstellung “Inspirierte Orte” im Museumsneubau im Böttchergässchen eröffnet. Dr. Volker Rodekamp, der Direktor des Museums, will eine kleine Rede halten. Und der MDR Figaro-Redakteur Andreas Höll will was sagen. Das kann eine Menge werden, denn was Sandig da zwischen 2008 und 2011 fotografiert hat, gehört zu den Kostbarkeiten des heutigen Leipzig. Ein Teil davon wird als “Leipziger Schule” oder “Neue Leipziger Schule” vermarktet. Aber das ist Marketing, das, was Galeristen und Kunstverkäufer draus machen. Kunst in Leipzig aber ist längst mehr.
Erstaunlich viel mehr, wie diese Ausstellung zeigt. Und keiner wäre für diesen Rundumschlag prädestinierter gewesen als Sandig, der seit 1980 für Künstler, Museen, Verlage, Auktionshäuser und Sammler tätig ist und Kunst auf Celluloid oder Speicherchip bannt. Professionell. Das ist Kunst und Handwerk zugleich. Wer’s schon mal versucht hat, weiß, was alles dazu gehört, ein eindrucksvolles Gemälde farbecht und in den richtigen Proportionen auf Papier zu bekommen. Etliche der Kunstbände, die in den letzten Jahren zur Leipziger Kunst entstanden, sind ohne Sandigs Zuarbeiten nicht vorstellbar.Die zwangsläufige Folge: Er kennt die Leipziger Künstler. Er hat sie in ihren Ateliers besucht, kennt die Alt-Stars der Szene, die erfolgreichen Professoren, die genauso erfolgreichen Schüler und die kommenden Talente. Doch ihn hat nicht das Künstlerporträt interessiert. Ihn reizte der Raum, in dem Kunst gemacht wird. Wahrscheinlich ist Leipzig so reich an Ateliers wie kaum eine andere Stadt im Land. Selbst Keller, Dachböden und Speisekammern werden umfunktioniert, wenn Not am Raum ist oder der Künstler anders nicht arbeiten kann. Mancher hat sich sein Atelier wie die gute Stube eingerichtet – mit Teppich, Couch und Blume. Andere haben – wofür Leipzig ja mittlerweile berühmt ist – alte Fabriken umfunktioniert. Nicht nur die einstige Baumwollspinnerei in Lindenau, auch in den einstigen Pittlerwerken oder der Hornschen Likörfabrik in Gohlis findet man die von Malerinnen und Malern, Bildhauerinnen und Bildhauern bevölkerten Räume.Und jeder Raum verrät logischerweise eine Menge (oder fast alles) über den Nutzer – mal ist er aufgeräumt wie ein Museum, mal chaotisch wie ein Jugendzimmer, mal vollgestopft mit Trödel, mal geheimnisvoll wie ein Alchemisten-Labor. Jeder schafft sich seine eigene Arbeitsatmosphäre, stapelt die eigenen Bilder an der Wand oder schafft freien Raum, um sich auszutoben. Mancher braucht auch noch seine Muse dazu, barbusig gar? – Nein. Da sträubte sich dann doch der Fotograf, der den Betrachtern seiner Panoramen nicht die Frage zumuten wollte, ob er sich das nun gewünscht hatte oder der doppelt abgebildete Maler.
Mit fotografischen Panoramen beschäftige er sich schon seit seiner Studienzeit, erklärt Sandig (65). Doch mit analoger Technik sei das logischerweise immer eine “einzige Bastelei” gewesen. Erst das Aufkommen der Digitalfotografie hat die Herstellung von Rundum-Schauen leichter gemacht. Wenn auch anfangs nicht ohne Komplikationen. Auch die Fotobearbeitungsprogramme mussten erst lernen, Bildmaterial für Panoramen aufzubereiten.Mittlerweile ist die Technik so weit gediehen, dass Sandig kein Problem mehr hat, solche Bilder in Serie anzufertigen. Deswegen begann er 2008 auch, befreundete Künstler zu fragen, ob sie ihm für sein Projekt die Ateliertüren öffnen würden. Nicht jeder machte mit. Mancher – wie der berühmte Neo Rauch – sagten wegen zeitlicher Engpässe ab. “So etwas habe ich akzeptiert. Das ist doch kein Problem”, sagt Sandig, dem ja trotzdem eine Welt der Eigenarten offen stand. Unter den 107, deren Ateliers jetzt im Panorama-Blick im Stadtgeschichtlichen zu sehen sind, sind sie reihenweise zu finden, die das Bild der Leipziger Kunstlandschaft prägen und über Leipzig hinaus von sich reden machen. Von A wie Hans Aichinger bis Z wie Heinz Zander, Constanze Zorn und Doris Ziegler nicht zu vergessen.
Denn wo das Kunst-Feuilleton oft genug ausblendet, dass die Leipziger Kunstwelt zur Hälfte weiblich ist, hat Sandig auch die begabten Frauen in ihren heiligen Hallen abgelichtet. Und – ja – natürlich kennt man sie. Die Irmgard Horlbeck-Kappler, die Ursula Mattheuer-Neustädt, die Juliana Ortiz und Gabi Francik. Es wird eine Zeit geben, da werden die Kunst- und Sozialhistoriker Sandigs Bilder mit der Lupe untersuchen, weil es die abgebildeten Details sind, die das Kunstschaffen in dieser Zeit festhalten. Ein Buch werde das trotzdem vorerst nicht. Das sei zu teuer, sagt Sandig. Und die üblichen Kunstförder-Institute haben erst einmal abgelehnt.
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So dass es durchaus ratsam ist, die Ausstellung tatsächlich zu besuchen. Mit viel Zeit in der Hinterhand. Denn jedes der 107 Panoramen ist eine Welt zum Entdecken für sich. Die Künstler immer mittendrin, manche stolz im Bildmittelpunkt, andere lässig im Sessel oder an der Staffelei. Manche auch im Nachbarzimmer. Weil das Atelier selbst viel zu klein ist und neben dem Fotografen, der seine Bildserie anfertigte, kein Zweiter Platz fand. Mancher lebt auch in Ateliers, die groß genug sind, dass ein Bentley drin parken kann.
Aber das Überraschendste ist wohl dieser fast intime Blick in den Schaffensraum. Wer ihn zuließ und Sandig hereinließ, der gibt auch eine Menge über sein Verständnis von Kunst und Kunstmachen preis. Nebst so unbedeutender Dinge wie Ordnungssinn, Eitelkeit, Harmoniesucht oder Freude am Kleckern. Alles ist da. Und zwei Panoramen kann man sich dann auch so anschauen, wie man sich Panoramen klassischerweise anschaut – sie sind im Raum aufgehängt und laden zum Eintreten ein.
Gezeigt wird die Ausstellung “Inspirierte Orte” im Neubau des Stadtgeschichtlichen Museums vom 25. Januar bis zum 4. März.
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