Stellten wir uns am Anfang dieser Artikelreihe noch die Fragen, was Provenienzforschung für die Leipziger Museen bedeutet und was bisher erreicht werden konnte, heißt es in der Rückbetrachtung: Warum läuft die Erforschung der Museumsbestände so schleppend? Bevor wir eine Antwort auf diese Frage geben können, zunächst ein Rückblick auf die letzten Monate und was sich seither verändert hat.
„Provenienzforschung umfasst viele Fragestellungen: die Erforschung von Objekt-, Sammlungs- und Geschmacksgeschichte, die Erforschung von Werkstattzusammenhängen, Restauriergeschichte, Funktionsgeschichte, Fragestellungen zur Entwicklung des Kunstmarktes, Kolonialgeschichte, Zeitgeschichte. Sie ist Objekt- und Museumsgeschichte“, erklärte Stefan Weppelmann, Direktor des Museums der bildenden Künste (MdbK), Anfang des Jahres. Ein Teil dieser Fragestellungen berührt unrechtmäßige Verbringungen. So beraubten Kolonialisten im 19. und 20. Jahrhundert indigene Gemeinschaften. Zwischen 1933 und 1945 wurden verfolgte Minderheiten, Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma um ihr kulturelles Hab und Gut gebracht. Und auch während der sowjetischen Besatzung und in der DDR kam es zu illegalen Inbesitznahmen.
Einige dieser Kunstschätze aus den vergangenen Jahrhunderten und Jahrzehnten schlummern bis heute in den Depots von Museen oder zieren sogar die Wände verschiedener Ausstellungen. Um diese Verbrechen offenzulegen, stehen dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste jährlich vier Millionen Euro zur Verfügung, um bundesweit Provenienzforschungsprojekte zu finanzieren.
Provenienzforschung kann das Unrecht weder korrigieren noch wiedergutmachen, aber sie kann die Unrechtskontexte offenlegen, erforschen, Sachverhalte verständlich aufbereiten, dokumentieren, vermitteln und transparent zugänglich machen.
Mit der Museumskonzeption 2030 setzte Leipzig einen verbindlichen Rahmen für die vier städtischen Museen. Auf Platz eins der acht Schwerpunkte für das Stadtgeschichtliche Museum, das Naturkundemuseum, das Museum der bildenden Künste und das GRASSI Museum steht das Thema Provenienzforschung.
Koloniale Vergangenheit am Naturkundemuseum und GRASSI
Trotz seiner scheinbar moralisch unbedenklichen Sammlung setzt sich das Naturkundemuseum mit seiner Vergangenheit auseinander. Zum einen sind die Umstände, unter denen ein Objekt geborgen wurde, essenziell für eine naturwissenschaftliche Sammlung. Zum anderen können auch hier problematische Verknüpfungen zur Vergangenheit sichtbar gemacht werden.
So stammt ein Teil der Präparate aus ehemaligen deutschen Kolonien und könnte mithilfe ausgebeuteter Einheimischer in die deutschen Museen gelangt sein. Sowohl die eigene Kolonialgeschichte als auch die Reisen deutscher Forscher/-innen geben dem Museum immer wieder Anlass, kritisch „das Eigene“ und „das Fremde“ zu hinterfragen: „Der Blick auf das eigene ist nie möglich, ohne das andere zu kennen und umgekehrt.“
Ähnlich wird es auch am GRASSI Museum für Völkerkunde gehandhabt. Die über 70.000 Kunstschätze aus ehemaligen Kolonien werden Schritt für Schritt erforscht und bei Bedarf zurückgegeben. So erfolgten beispielsweise Rückgaben menschlicher Gebeine nach Hawai’i und Australien.
Was jedoch noch im Depot des Museums schlummert, sind Dutzende Bronzen aus dem ehemaligen Königreich Benin. Die Kunstschätze aus dem heutigen Nigeria gelten als Eigentum des Freistaates Sachsen, weshalb das GRASSI Museum die Rückgabe nicht eigenmächtig in die Wege leiten kann.
Während der nigerianische Botschafter Yusuf Tuggar bereits mehrere Rückgabeersuche gestellt hat, unter anderem direkt an Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU), bleibt das deutsche Außenministerium still. Dort verweist man zum einen auf Gesprächskreise wie die „Benin Dialogue Group“, die den richtigen Umgang mit Raubkunst international diskutiert.
„Solche Rückgabeersuchen müssen Angaben enthalten, welche Objekte zurückverlangt werden, und legen Sachverhalt und Gründe des Rückgabeersuchens dar“, heißt es außerdem.
Die Digitalisierung hilft bei der Aufstellung einer solchen Objektliste, doch viele der Schätze liegen europaweit in den dunklen Depots verschiedener Museen, die mit der digitalen Erfassung ihrer Bestände noch weit hinterherhinken. „Pedanterie ist keine angemessene Antwort auf kolonialen Diebstahl“, sagt Tuggar. „Nigeria appelliert an Deutschlands moralisches Bewusstsein, zu tun, was richtig ist.“
Und er wurde anscheinend gehört, denn schon 2022 sollen die ersten Benin-Bronzen nach Nigeria zurückkehren, verkündet GRASSI-Direktorin Léontine Meijer-van Mensch vor wenigen Wochen. Derzeit laufen mehrere internationale Kooperationen zur Erarbeitung des GRASSI-Bestandes und seit April wird ein zweijähriges Projekt vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler/-innen in Togo finanziert.
Trotz dieser Fortschritte brauche es noch mehr, so die AG Leipzig Postkolonial: „Es braucht eine Beweislastumkehr bei der Bewertung eines vorhandenen kolonialen Kontextes. Statt wie aktuell anzunehmen, es gäbe Rechtmäßigkeit im globalen Unrechtssystem des Kolonialismus.“
NS-Raubgut im MdbK und Stadtgeschichtlichen Museum
Etwas mehr Verbindlichkeit wurde 1998 durch die Washingtoner Konferenz beim NS-Unrecht geschaffen. Mit dem Beschluss der Konferenz stimmte Deutschland zu, NS-verfolgungsbedingte Kulturgüter zu identifizieren, ihre Eigentümer ausfindig zu machen und eine „gerechte und faire Lösung“ zu finden.
Am Stadtgeschichtlichen Museum (SGM) untersuchte man daraufhin um die Jahrtausendwende grob die eigenen Bestände – zunächst ohne auf verdächtige Objekte zu stoßen. „2018 entschlossen wir uns dann, der Provenienzforschung mehr Platz im Museumsalltag einzuräumen“, so die Museumsleitung.
Ein Jahr später wurde ein dreijähriges Provenienzforschungsprojekt am SGM eingeleitet, bis 2022 größtenteils finanziert vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste. Dabei werden über 300 Objekte – Gemälde, Zeichnungen und Plastiken – auf ihre Herkunft untersucht.
„Wir sind bei unseren derzeitigen Recherchen auf eine Erwerbung mit sieben Objekten gestoßen, die als sehr bedenklich eingestuft wurde. 139 Provenienzen sind unbedenklich, weitere 43 sind als offen eingestuft worden. Weitere 165 Kunstwerke werden nun noch untersucht“, heißt es im Zwischenfazit.
Auch das MdbK widmet sich seit vielen Jahren der Provenienzforschung. In der NS-Zeit erwarb das Leipziger Museum 163 Gemälde und 30 Plastiken. Natürlich würde der Fokus zuerst auf Objekte gelegt, bei denen möglicherweise Handlungsbedarf besteht.
So wurden bereits um die Jahrtausendwende umfangreiche Restitutionen in Angriff genommen: Die Sammlungen Hirzel, Heine, Krug von Nidda und Hinrichsen wurden an die rechtmäßigen Erben zurückgegeben. Ein großer Erfolg war außerdem die Rückgabe der Sammlung Kirstein.
Im vergangenen Jahrzehnt finanzierte die Stiftung Kulturgutverluste drei Provenienzprojekte am Museum der bildenden Künste. „Zur Kategorisierung des untersuchten Bestandes wurde ein Ampel-System entwickelt. 54 der untersuchten Provenienzen zwischen 1933 und 1945 konnten als ‚grün‘, also als unproblematisch bewertet werden, während für 107 Werke eine weitergehende Erforschung notwendig ist (‚gelb‘). Zwei Werke wurden als ‚rot‘ eingestuft“, berichtet Weppelmann über das letzte Projekt.
Für dieses findet der Arbeitskreis Provenienzforschung e.V: jedoch relativ harte Worte: „Was die Situation im MdbK angeht, so ist diese auch für uns von außen nach wie vor intransparent. Damit unterscheidet sich die Situation in Leipzig aber nun mal nicht sonderlich von der in anderen Städten.“
Das Problem: Geld
„Provenienzforschung kann nirgendwo in ‚Erfolgsquoten’ gemessen werden, sondern muss ergebnisoffen bleiben“, so der Arbeitskreis Provenienzforschung. Natürlich sind einzelne Restitutionsvorgänge nicht repräsentativ für die Komplexität und Vielschichtigkeit dieses Forschungsbereichs. Dennoch machen gerade diese Fälle darauf aufmerksam, wo es bei der Provenienzforschung noch hakt.
Alle Probleme münden wie so oft an einem Punkt: Geld. Projekte, die den musealen Besitz untersuchen sollen, werden oft für ein paar Monate, im besten Fall für maximal drei Jahre gefördert. Danach müssen die Untersuchungen vorerst wieder auf Eis gelegt werden. Währenddessen wechseln die Ansprechpartner/-innen in anderen Museen, Expert/-innen gehen in den Ruhestand, ehemalige Eigentümer/-innen versterben, die Familiengeschichten geraten zunehmend in Vergessenheit. So muss der persönliche Vernetzungsprozess in anschließenden Projekten wieder von vorn erfolgen.
„Belege über Enteignungen, Verlagerungen und Raubzüge wurden vernichtet oder in Nachkriegsgesellschaften vertuscht“, so der Arbeitskreis Provenienzforschung. Auch deshalb sei Provenienzforschung ein sehr zeitaufwendiger Prozess.
„Die Frage ist, ob es reicht, dass schrittweise und durch die auch zeitlichen Beschränkungen der Förderprogramme geforscht wird. Oder gebietet es die Wichtigkeit und Dringlichkeit dieses Anliegens nicht, Strukturen zu schaffen, die insgesamt die Sammlungen in den Blick nehmen zur vollständigen Erfassung und Forschung?“, fragt GRASSI-Direktorin Léontine.
Es kann viel getan werden
Die Antwort auf die anfangs aufgeworfene Frage, warum es an den Leipziger Museen so schleppend läuft, lässt sich also nicht bei den vollbrachten Leistungen der Forscher/-innen finden, sondern bei den Rahmenbedingungen der Provenienzrecherchen.
Was sind nun also die Lösungen? Zum einen braucht es seitens der Museen maximale Transparenz und „ehrliche Bereitschaft für einen vertrauensvollen und ergebnisoffenen Prozess“, so die AG Leipzig Postkolonial. Hier spielt auch die Digitalisierung der Bestände eine entscheidende Rolle. Damit können alle Mitarbeiter/-innen des Museums, aber auch externe Forscher/-innen und sogar eventuelle Erben auf Informationen rund um die Sammlungen zugreifen. Solche Netzwerke können die Recherchen beschleunigen und mögliche Rückgaben überhaupt erst anstoßen.
Zum anderen ergab eine Mitgliederumfrage des Arbeitskreises Provenienzforschung, dass zu selten ein Wille erkennbar sei, die Forscher/-innen nach Abschluss der Projekte am Haus zu verankern, die begonnene Arbeit fortzusetzen oder begonnene Recherchen befriedigend abzuschließen.
Auch wenn sich Deutschland mit den Washingtoner Beschlüssen hohe Ziele auf freiwilliger Basis setzte, hapert es bei der Umsetzung. Noch schwieriger ist es in kolonialen Kontexten, für die bisher gar nichts vereinbart wurde. Daher brauche es auf nationaler und internationaler Ebene rechtlich verbindliche Regelungen, so Leipzig Postkolonial. „Dafür ist es wichtig, dass Institutionen wie Museen, aber auch zivilgesellschaftliche Akteur/-innen von politisch Verantwortlichen einfordern, rechtliche und politische Rahmenbedingungen (…) zu erarbeiten.“
Und politische Rahmenbedingungen heißt eben auch Provenienzforschung im Haushaltsplan der Stadt Leipzig zu verankern. Man dürfe die aktuelle Corona-Situation und die dadurch entstandene finanzielle Mehrbelastung nicht vergessen, so MdbK-Direktor Weppelmann. Dennoch müsse eine Lösung gefunden werden, um kontinuierliche Forschung zu ermöglichen.
Das Stadtgeschichtliche Museum schlägt eine gemeinsame dauerhafte Stelle für alle städtischen Museen vor. Diese könnte mit jedem Doppelhaushalt wechseln. Insgesamt bedarf es auf jeden Fall einer Schaffung von Arbeitsstellen und einer Diversifizierung des Personals, bestätigt der Arbeitskreis Provenienzforschung.
Die enge Zusammenarbeit mit den beraubten Gemeinschaften sollte bei all diesen Prozessen miteinbezogen werden, um einer (eventuell ungewollten) Reproduktion von Rassismus und kolonialer Gewalt entgegenzuwirken.
„Es ist noch viel zu tun: Wie die städtischen Museen Jahrhunderte altes Unrecht erforschen“ erschien erstmals am 30. Juli 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 93 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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