Mit über 80.000 Gemälden, Plastiken, Fotografien und grafischen Werken gehört das Museum der bildenden Künste (MdbK) zu den umfangreichsten Kunstsammlungen Deutschlands. Um dem Leipziger Stadtentwicklungskonzept gerecht zu werden, organisieren die städtischen Museen Ausstellungen mit internationaler Reichweite, erforschen, bewahren und erweitern die Sammlungsbestände. Die Erforschung der Kunstwerke umfasst auch die Provenienzrecherche, welche die Herkunft von Bildern und Skulpturen klären soll. Zwischen 1933 und 1945 wurden verfolgte Minderheiten, Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma um ihr kulturelles Hab und Gut gebracht. Einige dieser Kunstschätze schlummern noch immer in den Depots von Museen oder zieren die Wände verschiedener Ausstellungen.
Daher wirkt die Rückgabe und Wiedergutmachung des Unrechts für öffentliche Einrichtungen wie eine moralische Verbindlichkeit. Auch das MdbK widmet sich seit vielen Jahren der Provenienzforschung. In der NS-Zeit erwarb das Leipziger Museum 163 Gemälde und 30 Plastiken.
Und auch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg spielt eine entscheidende Rolle, so das MdbK: „Aufgrund der oft hohen Sammlungszuwächse wurden einzelne Blätter in der Vergangenheit nicht immer sofort, sondern manchmal erst Jahre später inventarisiert. Der tatsächliche Zeitpunkt der Erwerbung muss für viele Werke also erst recherchiert werden. Der Prüfzeitraum wurde deshalb um die 1960er Jahre erweitert, um sicherzustellen, dass alle Erwerbungen zwischen 1933 und 1945 erfasst werden.“
Weitere 470 Gemälde und unzählige Plastiken fanden in dieser Zeit Eingang in die Sammlung.
„Provenienzforschung umfasst viele Fragestellungen: die Erforschung von Objekt-, Sammlungs- und Geschmacksgeschichte, die Erforschung von Werkstattzusammenhängen, Restauriergeschichte, Funktionsgeschichte, Fragestellungen zur Entwicklung des Kunstmarktes, Kolonialgeschichte, Zeitgeschichte. Sie ist Objekt- und Museumsgeschichte. Ein Teil dieser Fragestellungen berührt die unrechtmäßigen Verbringungen, im Wesentlichen während der NS-Zeit und während der Zeit der sowjetischen Besatzung und in der DDR“, erklärt Stefan Weppelmann, Direktor des MdbK.
Natürlich würde der Fokus zuerst auf Objekte gelegt, bei denen möglicherweise Handlungsbedarf besteht.
So wurden bereits um die Jahrtausendwende umfangreiche Restitutionen in Angriff genommen: die Sammlungen Hirzel, Heine, Krug von Nidda und Hinrichsen wurden an die rechtmäßigen Erben zurückgegeben. Ein großer Erfolg war die Rückgabe der Sammlung Kirstein: Der Leipziger Verlagsbuchhändler Gustav Kirstein hatte im Laufe seines Lebens eine umfangreiche Kunstsammlung mit Werken von Adolf von Menzel, Carl Spitzweg, Lovis Corinth, Édouard Manet, Max Klinger, Käthe Kollwitz, Max Liebermann und Georg Kolbe aufgebaut.
1938 wurde der Verlag beschlagnahmt, die Kunstschätze verkauft, ohne dass der Erlös der Familie Kirstein ausgezahlt wurde. 62 Jahre später gab das MdbK, welches damals 105 Objekte erstanden hatte, diese an die Kirstein-Erben zurück.
Im vergangenen Jahrzehnt finanzierte die Stiftung Kulturgutverluste drei Provenienzprojekte am Museum der bildenden Künste. So wurde 2010 die Sammlung Kummerlé durch den externen Forscher Sven Pabstmann untersucht. Von 32 Objekten wurden elf an den niederländischen Staat restituiert. Das Staatliche Amt für das Kulturerbe (Rijksdienst voor het Cultureel Erfgoed) bewahrte die Kunstschätze, bis die rechtmäßigen Erben der Gemälde Anspruch erhoben: 2013 meldeten sich die Nachfahren der geflohenen jüdisch-niederländischen Kunsthändler Goudstikker und Katz.
Die folgenden zwei größtenteils vom Bund finanzierten Projekte wurden durch die Kunsthistorikerin Birgit Brunk betreut und gingen fließend ineinander über. Im Gegensatz zum ersten Projekt waren diese langfristiger ausgelegt und nicht an eine bestimmte Sammlung gebunden. Von 2015 bis 2020 untersuchte Brunk die im MdbK verbliebenen Gemälde aus der NS-Zeit.
„Zur Kategorisierung des untersuchten Bestandes wurde ein Ampel-System entwickelt. 54 der untersuchten Provenienzen zwischen 1933 und 1945 konnten als ‚grün‘, also als unproblematisch bewertet werden, während für 107 Werke eine weitergehende Erforschung notwendig ist (‚gelb‘). Zwei Werke wurden als ‚rot‘ eingestuft“, berichtet Weppelmann.
Im Fokus stand der sächsische Kunsthandel, allen voran das Auktionshaus C. G. Boerner, welches in seinen Versteigerungen erwiesenermaßen jüdischen Besitz anbot und im engen Kontakt zum MdbK stand. Aufgrund des noch fehlenden Abschlussberichtes konnte die Museumsleitung derzeit keine Angaben zu den Recherchen im Fall Boerner machen.
Anders bei der Geipel-Sammlung: Paul Geipel erwarb in den 1930er und 1940er Jahren viele Kunstwerke auf öffentlichen Auktionen und von privaten Künstlern sowie Sammlern. Die Skulpturen Galatea und das Porträt Reinhold Meyer von Max Klinger wurden bereits an die Erben der ehemaligen Eigentümer zurückgegeben. Weitere Untersuchungen zeigten, dass die Hälfte der Geipel-Gemälde und zwei Drittel der Plastiken als ‚gelb‘ eingestuft werden mussten.
Insgesamt wurden in den letzten Jahren mehrere hundert Werke untersucht – Aufstellungsaufkleber, Etiketten von Galerien oder Auktionshäusern sowie Zollstempel auf der Rückseite von Gemälden verweisen beispielsweise auf den Weg, den ein Kunstwerk zurückgelegt hat.
Neben der nötigen Expertise sind vor allem nationale und internationale Zusammenarbeit essenziell für die Provenienzforschung, so Weppelmann: „Vernetzung spielt eine große Rolle, und nationale Einrichtungen, wie das Zentrum Kulturgutverluste, die wichtige Handreichungen und Regeln liefern, sind notwendige Partner. Internationale Datenbanken wie Lost Art spielen eine wichtige Rolle.“ Auf der Plattform Lost Art, die Such- und Fundmeldungen sowie Informationen zu definitivem oder eventuellem NS-Raubgut beherbergt, sind derzeit 58 Malereien und 13 Plastiken des MdbK verzeichnet.
Doch in dieser notwendigen Vernetzung liegt auch die Tragödie der derzeitigen Provenienzforschung: Projekte, die den musealen Besitz untersuchen sollen, werden oft für ein paar Monate, im besten Fall für einige Jahre gefördert. Danach müssen die Untersuchungen vorerst wieder auf Eis gelegt werden. Währenddessen wechseln die Ansprechpartner/-innen in anderen Museen, Expert/-innen gehen in den Ruhestand, ehemalige Eigentümer/-innen versterben, die Familiengeschichten geraten zunehmend in Vergessenheit. So muss der persönliche Vernetzungsprozess in anschließenden Projekten wieder von vorn erfolgen.
„Ich würde mir eine dauerhafte Stelle für Provenienzforschung am MdbK wünschen, keine Frage“, sinniert Stefan Weppelmann. Die Coronakrise verändere aber auch in diesem Bereich die Prioritäten: „Vergessen wir aber bitte nicht die momentane Lage: Öffentliche Träger und öffentliche Haushalte haben gerade unter dem Eindruck von Corona eine Vielzahl von Verpflichtungen und angespannten Situationen und wo rangiert in diesem Kontext nun die Provenienzforschung? Ich würde gerne diese Perspektive ein wenig wahren in diesen Zeiten.“
Unrecht sei dennoch in vielen Kontexten zu finden: ob NS-, DDR- oder Kolonialzeit. „Es ist egal, was für ein Kontext die Ursache ist: Die Dinge gehören geklärt“, schließt Weppelmann. Auch wenn die Pandemie zurzeit alles im Griff hat; finanzielle, personelle und inhaltliche Priorisierungen in den Museen vorgenommen werden müssen. Im Falle der Provenienzforschung muss, so schnell es die Situation zulässt, gehandelt werden: Die Wiedergutmachung des Unrechts von gestern ist der Anfang der gerechten Welt von morgen.
„Provenienzforschung am Museum der bildenden Künste #2021JLID“ erschien erstmals am 26. Februar 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG. Unsere Nummer 88 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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