Musik immer und รผberall verfรผgbar zu machen โ€“ das ist die Erfolgsformel des Streaminganbieters Spotify mit seinem milliardenschweren Umsatz. Auf rund 100 Millionen Songs kรถnnen Musikfans via Smartphone zugreifen. Mit etwas Fantasie lieรŸen sich die Wurzeln dieser schwedischen Erfolgsgeschichte vor 140 Jahren in Leipzig verorten.

Schon damals hat es das Bedรผrfnis gegeben, sich unterschiedliche Lieblingslieder mรถglichst hรคufig anzuhรถren. Die Voraussetzung, um dieses Bedรผrfnis zu stillen, hat Paul Friedrich Ernst Ehrlich (1849โ€“1925) Ende des 19. Jahrhunderts gelegt.

Der gelernte Instrumentenbauer erfand 1882 eine Mini-Drehorgel, das Ariston, auf der gelochte Pappplatten aufgelegt und durch Kurbeln abgespielt werden konnten. Diese Erfindung war deshalb so bahnbrechend, weil es erstmals mรถglich war, selbst Musik abzuspielen, ohne ein Instrument beherrschen zu mรผssen. Hinzu kam, dass sich die Platten wechseln lieรŸen. Mit der Lochplatte hatte Paul Ehrlich auch einen der ersten musikalischen Datentrรคger kreiert.

Damit hatte der Leipziger, dessen Todestag sich am 17. Januar 2025 zum 100. Mal jรคhrt, die Musikwelt revolutioniert. Musikgenuss wurde erstmals fรผr die breite Masse erschwinglich und war zu einem Preis von 25 Reichsmark nicht lรคnger an elitรคre Darbietungen im adeligen Kontext gebunden. Fast jeder konnte sich das preiswerte Ariston und die noch gรผnstigeren Lochplatten leisten. Erstmals war es mรถglich, sich so etwas wie eine Musiksammlung aufzubauen.

โ€žDie Musikautomaten stillten den Bedarf danach, individuell in allen Gegenden der Welt die beliebtesten Lieder, Tรคnze und andere Melodien so oft man wollte abzuspielen, ohne Stromanschluss und musikalische Bildungโ€œ, erklรคrt Dr. Birgit Heise, Musikwissenschaftlerin an der Universitรคt Leipzig. Paul Ehrlich hatte das Musikerlebnis demokratisiert und die Basis fรผr den Massenkonsum der heutigen Zeit bereitet.

Seine Idee traf nicht nur einen Nerv, sie begrรผndete auch einen eigenen Industriezweig, der die Stadt Leipzig รผber 50 Jahre zum Zentrum der globalen Musikautomaten-Industrie machte. Tausende Arbeitsplรคtze und ein gestiegener Wohlstand gingen damit einher.

Das Ariston

Das Ariston war nicht nur preiswert, sondern auch einfach zu bedienen. Selbst Kinder konnten die Kurbel drehen und Musik erzeugen. Niemand brauchte mehr mรผhsam ein Instrument zu erlernen, um sein Leben mit Musik zu bereichern. Das Ariston wurde binnen kรผrzester Zeit zum Verkaufsschlager, und Paul Ehrlich war nicht mehr nur als genialer Erfinder, sondern auch als Unternehmer und Kaufmann gefordert. Um der hohen Nachfrage gerecht zu werden, grรผndete er die Firma Leipziger Musikwerke.

Die Industrialisierung spielte ihm in die Karten, da maschinell produzierte Instrumente schnell und in groรŸer Zahl hergestellt werden konnten. Wรคhrend Paul Ehrlich 1881 noch 5.000 Instrumente verkaufte, waren es 1885 schon 100.000. Auch die Zahl seiner Angestellten stieg binnen weniger Jahre von 65 auf 600.

 Paul Ehrlich hat die Leipziger Musikautomaten-Industrie begrรผndet und den Musikkonsum Ende des 19. Jahrhunderts revolutioniert. Foto von 1899 aus dem Familienbesitz Quaas
Paul Ehrlich (1849โ€“1925) hat die Leipziger Musikautomaten-Industrie begrรผndet und den Musikkonsum Ende des 19. Jahrhunderts revolutioniert. Foto von 1899 aus dem Familienbesitz Quaas.

Das neue Instrument fand nicht nur in Deutschland reiรŸenden Absatz. Es wurde auch nach England, Amerika sowie Australien exportiert. รœberall wollten die Menschen ihre Lieblingsmelodien hรถren und in geselliger Runde zusammenkommen. Mit der Verbreitung von Musik vertrieb Paul Ehrlich nicht nur ein positives Lebensgefรผhl, sondern auch ein verbindendes Element zwischen den Menschen. Der Erfolg zog viele Nachahmer auf den Plan, sodass Leipzig zum Zentrum dieser Entwicklung avancierte.

Sogar Kรถnig Albert von Sachsen staunte nicht schlecht: โ€žWer hรคtte jemals ahnen kรถnnen (โ€ฆ), dass die Erfindung der mechanischen Musikwerke mit durchlochtem Blatt und auswechselbaren Notenblatt, (โ€ฆ) einen so gewaltigen Aufschwung der durch Sie ins Leben gerufenen Industrie hรคtten gewinnen kรถnnen!โ€œ

Nur 15 Jahre nach der Erfindung des Aristons waren rund 400.000 Exemplare und rund fรผnf Millionen Lochplatten verkauft.

Das Ende

Doch der kometenhafte Aufstieg des Unternehmens setzte sich nicht fort. Urheberrechtsklagen von Komponisten machten der Branche zu schaffen. Hinzu kam eine durch Kriege in Sรผdafrika und China verursachte Exportkrise, die nicht nur zu einem harten Konkurrenzkampf der Betriebe, sondern auch zu รœberproduktion fรผhrte. Da sich am Horizont bereits der Siegeszug des Grammophons abzeichnete, ging die Zeit des Aristons zu Ende.

Zwar hatte der technische Direktor und Instrumentenbauer Paul Ehrlich die Angebotspalette der Fabrik Leipziger Musikwerke schon frรผhzeitig um Klaviere, Harmoniums und sogar Orgeln erweitert, das finanzielle Polster des Unternehmens reichte jedoch nicht aus, um in dieser Krisensituation erneut in die Entwicklung zu investieren. Wie viele der Mitbewerber steuerte das Unternehmen in die Insolvenz und wurde schlieรŸlich 1905 in ein Nachfolgeunternehmen รผberfรผhrt.

Paul Ehrlich wurde vom genialen Erfinder zum erfolgreichen Unternehmer. Allein die schiere GrรถรŸe der Fabrik Leipziger Musikwerke vormals Paul Ehrlich & Co. zeigt, welche Dimension der Erfolg erreicht hatte. Abbildung: Die GroรŸindustrie des Kรถnigsreichs Sachsen in Wort und Bild
Paul Ehrlich wurde vom genialen Erfinder zum erfolgreichen Unternehmer. Allein die schiere GrรถรŸe der Fabrik Leipziger Musikwerke vormals Paul Ehrlich & Co. zeigt, welche Dimension der Erfolg erreicht hatte. Abbildung: Die GroรŸindustrie des Kรถnigsreichs Sachsen in Wort und Bild.

Doch er steckte den Kopf nicht in den Sand. Die Begeisterung, Dinge zu verbessern und die Freude an neuen Ideen trieben ihn weiter an. Mehr als 100 Patente hatte Paul Ehrlich im Laufe seines Lebens erlangt. Mit 74 Jahren wollte er es noch einmal wissen und grรผndete in Minden/Westfalen die Ehrlich AG. Minden schien ihm fรผr eine Neugrรผndung sicherer zu sein als das krisengeschรผttelte Sachsen der Nachkriegszeit.

Mit der Aktiengesellschaft wollte er an die Vorkriegserfolge des Harmoniums anknรผpfen. Doch die hohe Inflation der 20er Jahre sowie der Umstand, dass es bereits zahlreiche etablierte Harmoniumbauer gab, verhinderten einen Erfolg.

Anstatt sich selbst materiell abzusichern, dachte der siebenfache Vater zunรคchst an seine Kinder: Etliche seiner Patente hatte er bereits seinen Tรถchtern รผberschrieben, damit diese nicht mittellos alt wรผrden. Trotzdem setzte die ausufernde Inflation der Familie immer weiter zu. So kostete ein Laib Brot 1923 zeitweise rund zehn Millionen Mark. Seine letzten Lebensjahre verbrachte Paul Ehrlich verwitwet im Kreise seiner Tรถchter Meta und Gertrud in Leipzig.

Arztrechnungen fรผr seine schwere Lungenentzรผndung zehrten auch den letzten Rest an Vermรถgen auf. Dies ging so weit, dass frรผhere Weggefรคhrten und Unterstรผtzer am Ende nicht nur fรผr einen Teil seiner Behandlungskosten aufkommen mussten, sondern auch sein Begrรคbnis finanzierten. Paul Ehrlich starb am 17. Januar 1925 in Leipzig.

Eine Sonderausstellung

Dem Lebenswerk von Paul Ehrlich sowie dem Ariston wird sich das Deutsche Automatenmuseum in Espelkamp, das der Unternehmerfamilie Gauselmann gehรถrt, am 2. April mit einer Sonderausstellung widmen. Neben dem thematischen Bezug รผber die Automaten gibt es aber auch einen sensationellen familiรคren Kontext, denn Paul Gauselmanns Ehefrau Karin ist die Urenkelin von Paul Ehrlich.

Sie war schon lange mit dem Automaten-Unternehmer verheiratet, ehe sie im Rahmen einer Familienfeier darauf aufmerksam gemacht wurde, dass sich hinter ihrem UrgroรŸvater ebenfalls eine bedeutende Erfinder- und Unternehmerpersรถnlichkeit im Bereich automatisierter Musikunterhaltung verbirgt. Mit der Ausstellung wird auch ein Stรผck Familiengeschichte, das durch den Krieg und die DDR-Zeit in Vergessenheit geraten ist, wieder in Erinnerung gerufen.

Im Verlauf des Sommers wird die Ausstellung auรŸerdem im Grassi Museum Leipzig gezeigt.

Empfohlen auf LZ

So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:

Keine Kommentare bisher

Lochscheiben-Grammophone scheinen einmal eine Leipziger Stรคrke gewesen zu sein.
Im Musikarchiv der Nationalbibliothek am Deutschen Platz in Leipzig wird solch ein Gerรคt bei Fรผhrungen regelmรครŸig vorgestellt (kostenfrei und mit Fahrradabstellplatz).
Dieses Gerรคt, eine Orphenion Lochplattenspieldose von 1892, ist ein Konkurrenzprodukt zu dem von Paul Ehrlich, allerdings mit weniger kommerziellem Erfolg, da fehleranfรคllig. Die Bezeichnung โ€œSpieldoseโ€ fรผhrt in die Irre. Die Platten haben einen Durchmesser von schรคtzungsweise um 30 cm. Und diese Spieldosen haben eine hervorragende Klangqualitรคt! Erbauer war Bruno Rรผckert, ebenfalls aus Leipzig, wie Ruprecht Langer, Leiter des Deutschen Musikarchivs, berichtet. Anschauen und anhรถren lohnen sich!
https://ausstellungen.deutsche-digitale-bibliothek.de/klingendes-gedaechtnis/#s17/1

Schreiben Sie einen Kommentar