Ohne die Kenntnis der Gründungsgeschichte kann für den außenstehenden Betrachter der Szene die Selbstbezeichnung der Gruppe „Initiative Leipziger Architekten“ anmaßend erscheinen. Sie ist es aber nicht, weil der Name historisch begründet und die offene diverse Gruppe ehrenamtlich gemeinnützig tätig ist. Was sie eint, ist der lösungsorientierte Streit zu konkreten baukulturellen Themen, der darin besteht, nicht nur zu beklagen, sondern realisierbare Alternativen zu entwickeln und aufzuzeigen, die ureigenste Aufgabe des Berufsstandes Architekt.
Die ILA verkörpert damit auch den an konstruktiven Debatten orientierten, basisdemokratischen Geist von 89/90, der von Vertretern der nunmehr arrivierten Strukturen oftmals als aus der Zeit gefallen angesehen und geschmäht wird. Wahrscheinlich weil diese bereits im öffentlich geäußerten Zweifel an ihren Entscheidungen verbunden mit alternativen Lösungsvorschlägen die Gefahr des Untergrabens der Autorität ihrer Institutionen der repräsentativen Demokratie sehen, wie zuvor auch andere Autoritäten.
Die „Initiative Leipziger Architekten“ war im November 1989 inoffiziell und im Januar 1990 offiziell als Verein mit dem Zweck gegründet worden, ihrerseits die Gründung der Architektenkammer Sachsen zu verwirklichen. Der seinerzeitige Vorsitzende war der Architekt Wolfgang Friebe. Prominentester und ideengebender Mitbegründer war der Architekt Winfried Sziegoleit (1939–2021, Co-Autor Neues Gewandhaus und Bowling-Treff).
Die damalige Vereinigung bestand im Wesentlichen aus zwei Gruppen, die sich in ihrem Protest gegen die technokratische und rigide Bauplanungspolitik in der DDR einig waren. Dies waren einerseits die „Älteren“, damals die 50-60-Jährigen wie die Kollegen Sziegoleit, Friebe, Illg, Nauber, Sudau und andererseits die „Jüngeren“, damals die 30-40-Jährigen wie die Kolleginnen Wandelt und Krüger sowie die Kollegen Riedel, Selemann, Auspurg, Schumann, Wanderer, Haberbeck sowie weitere spontane Mitstreiter.
Die erste öffentliche Aktion der Gruppe war ihre Beteiligung an der Leipziger Volksbaukonferenz im Januar 1990, bei der Winfried Sziegoleit stellvertretend die Gründung des Vereins „Initiative Leipziger Architekten“ bekannt gab und weitere Mitglieder sich für gezielte Baustopps und das Überdenken von bereits getätigten Planungen aussprachen.
Auch wenn sich die Ereignisse in jenen turbulenten und chaotisch erscheinenden Zeiten überschlugen, hatte dieser basisdemokratisch agierende Verein in Leipzig für die berufspolitische Entwicklung in Leipzig, Sachsen und der ehemaligen DDR durch sein grundsätzlich lösungsorientiertes Debattieren und Handeln ordnenden Einfluss für den Prozess der Strukturanpassung des Vereinswesens und der Institutionalisierung sowie der Privatisierung im Bauplanungssektor der sich im Umbruch befindlichen DDR sowie der nachfolgenden staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands.
Die Gruppenmitglieder waren überwiegend Mitglieder im BdA (Bund der Architekten) der DDR des Bezirkes Leipzig bei deren kollegialen Zusammenkünften eine für DDR-Verhältnisse über alle Ebenen hinweg sehr offene und kritische Diskussionskultur herrschte, die im Herbst 89 befreiend öffentlich aufblühte.
Nachdem ich im Februar 1990 aus dem neuen Vorstand des BdA DDR Bezirk Leipzig heraus zu dessen ehrenamtlich tätigen Vorsitzenden gewählt worden war, organisierten wir gerade wegen der Auflösungserscheinungen mit großzügiger Unterstützung westdeutscher Architektenkammern insbesondere Nord-Rhein-Westphalen und Bayern zahlreiche Weiterbildungsveranstaltungen und unterstützten Bürogründungen.
Gegen Widerstände alter Funktionäre anderer Bezirke, besonders Ostberlin, haben wir vornehmlich im Zusammenwirken mit den Bezirksgruppen Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), Erfurt und Rostock planvoll den BdA DDR in Jahresfrist abgewickelt. Parallel dazu haben wir die Gründung der Architektenkammer Sachsen sowie des BDA – Bund Deutscher Architekten, des BDB – Bund Deutscher Baumeister, Architekten und Ingenieure e.V. und des VfA – Verband freischaffender Architekten in Leipzig und Sachsen initiierend befördert.
Im Jahr 1991 wurde Winfried Sziegoleit erster Präsident der Architektenkammer Sachsen (AKS), Uwe Schumann Vorsitzender des Wettbewerbsausschusses, Dirk Selemann Vorsitzender des Ausschusses zum Versorgungswerk und ich Vorsitzender des Weiterbildungsausschusses der AKS, anschließend war ich von 1993 bis 2024 Vorsitzender der BDB Bezirksgruppe Leipzig. Angela Wandelt wurde erste Vorsitzende des BDA Sachsen.
Sehr viel später waren auch Ronald R. Wanderer und Uwe Brösdorf aus der ILA, Vorsitzende des BDA Sachsen. Peter Ausburg war langjährig in der Führung des VfA tätig. Die Initiative Leipziger Architekten ging also in den Gliederungen der Kammer und Vereine auf und beendete mit der Gründung der Architektenkammer Sachsen ihren Vereinsstatus, ihr Geist übertrug sich in die Vereine.
Mit Niels Gormsen (1927–2018), seit 2010 selbst Mitglied der ILA, gab es Anfang der 1990-er Jahre einen Planungsdezernenten in Leipzig, der auf die Kammer und die Vereine zuging und diese in Form von Diskussionsrunden, Workshops und Wettbewerben bei der baulichen Entwicklung von Leipzig auf dem Laufenden hielt und punktuell einband.
Bei den nachfolgenden Planungsdezernenten war dies nicht mehr der Fall. Die Einladungen zu Diskussionsrunden, Workshops und Wettbewerben erfolgten nun seitens der Stadtverwaltung fast ausnahmslos nach persönlichem Gutdünken und nicht mehr offen über die Kammer und die Vereine, die damit immer mehr an Bedeutung und Zulauf einbüßten.
Anlässlich der Diskussionen um die Brühlbebauung als großformatiges Einkaufszentrum „Brühlarkaden“ fanden sich 2008 einige ehemalige Mitglieder der ILA als Vertreter der Vereine in ihrem Protest wieder. Daraus entstand in gewohnt konstruktiver Kritik der gemeinsame Gegenvorschlag, an Stelle des Gesamtkomplexes mit einer innenliegenden „Mall“ die Neubebauung mit vernetzten hofartigen Einzelkomplexen vorzunehmen, deren Haupterschließung vom Brühl erfolgen sollte, um den Brühl als Straße nicht ausbluten zu lassen.
Unsere Ratschläge prallten an dem Investor ab, verhallten sowohl in der Stadtverwaltung als auch im Stadtrat und führten lediglich dazu, dass der Name „Höfe am Brühl“ übernommen wurde, aber nicht die Struktur und deren urbaner Geist, den man heutzutage bei einem Stadtspaziergang über den Brühl schmerzlich vermisst.
Nach dieser Erfahrung formierte sich die Initiative Leipziger Architekten als lose und offene Vereinigung von Fachleuten in variierender Besetzung neu – Wanderer, Riedel, Rau, Haberbeck, Brösdorf, Faßauer, Voigt, Schirmer, Khorrami, Gormsen, Dietze, Fibich, Topfstedt, Böhme, Nabert – und mischte sich basisdemokratisch auch unter Einbeziehung von Antipoden projektbezogen und offensiv ohne Einladung aus der Stadtverwaltung oder dem Stadtrat konstruktiv mit geteiltem Erfolg in den Diskurs ein.
Ein Umstand, der tatsächlich von einigen Funktionären der repräsentativen Demokratie als eine unbotmäßige Einmischung in deren innere Angelegenheiten empfunden wurde.
Beim Bebauungsplanverfahren 392 Wilhelm-Leuschner-Platz wurde 2014–2016 nach eigens veranstalteten Foren, Vorschlägen und Diskussionen mit dem Stadtrat – mit Ausnahme der Grünen, die einen direkten Dialog kategorisch ablehnten – zumindest erreicht, dass entsprechend den Vorschlägen der ILA ein Binnenplatz vorgesehen und das Hochhaus exponiert platziert wird.
Das vierte Baufeld, das nach dem Motto von Winfried Sziegoleit – ihre Straßen und Plätze sind das Gedächtnis der Stadt – die historischen Konturen aufgenommen hätte entfiel, nunmehr zu Gunsten eines Biotops mit wehenden weißen Fahnen und Transparenten als symbolisches Denkmal für die Friedliche Revolution von 1989 in der DDR.
Bei dem städtebaulichen Vorhaben Matthäikirchhof (Grafik siehe oben) hat die ILA seit 2017 gegen den Erhalt der Stasibauten von 1985 mobil gemacht und unter anderem mit darauf hingewirkt, dass dem Antrag auf einen Denkmalstatus für die Stasineubauten nicht entsprochen wurde. Damit war der Erhalt dieser Gebäude in der Auslobung zwar favorisiert, aber nicht mehr ausgeschlossen worden.
Drei Kollektive aus der ILA hatten unter der Maßgabe des Abrisses bzw. Überformung der Stasineubauten an dem städtebaulichen Wettbewerb 2023–2024 ohne Erfolg teilgenommen. Das Ergebnis ist bekannt: ein gelungener Kompromiss, der sich vornehmlich dadurch auszeichnet, dass alle gleichermaßen unzufrieden sind. Dabei hatten die Architekten Hinrichsmeyer aus Stuttgart auch zu unserer Überraschung kompromisslos eine sehr schöne Lösung gefunden, meines Erachtens die Beste.
Die ILA entstand und besteht aus der Hoffnung, die nach Václav Havels (1936–2011) Worten nicht die Überzeugung ist, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn ergibt, egal wie es ausgeht. Ich wünsche der ILA zu ihrem 35. Geburtstag, dass diese Hoffnung produktiv erhalten bleibt, egal in welcher Gruppierung oder Zeit auch immer eingebettet.
Zum Autor: Adalbert Haberbeck ist 1950 in Geisa/Rhön, Bezirk Suhl, geboren. Am 3. Oktober 1961 wurde die sechsköpfige Familie nach Borna bei Leipzig zwangsumgesiedelt. 1968 machte er dort an der Erweiterten Oberschule ,,Wilhelm Pieck‘‘ Abitur. 1972 hat er dann an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar in der Fachrichtung Architektur diplomiert, von 1972 bis 1990 arbeitete er in Leipzig als angestellter Architekt.
Seit 1990 ist er hier als Architekt freischaffend tätig. Er war 1990 Gründungsmitglied der ILA, 1990 bis 1991 Vorsitzender und Abwickler des BdA-DDR im Bezirk Leipzig und 30 Jahre Vorsitzender der BDB BG Lpz.
Zur Homepage des Kommentators: www.adalbert-haberbeck-architekt.de
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