Die Schwester von Johann Wolfgang Goethe, Cornelia Friederica Christiana, hat Leipzig nie betreten. Aber ihr Bruder schrieb ihr aus Leipzig als Student viele Briefe, es sollen zusammen über hundert Seiten gewesen sein. Geboren ist sie am 7. Dezember 1750 in Frankfurt/Main, im „Haus mit den drei Leiern“ auf dem großen Hirschgraben; verstorben in Emmendingen in Baden am 8. Juni 1777 als verheiratete Frau Schlosser, Mutter zweier Töchter.
Lassen wir einmal diese Schwester aus dem Schatten ihres Bruders treten, zumal die Leipziger Volkshochschule auf ihrer Seite im Internet unter dem Titel: „275 Jahre Cornelia Goethe – Ein Frauenschicksal im 18. Jahrhundert“ für den 15. Januar 2025 eingeladen hat!
Ein Frauenschicksal zwischen Begabung, Können und verwehrter Entfaltung
Ein Frauenschicksal, das sie, hier nur als Beispiel genannt, mit der Schwester von Wolfgang Amadeus Mozart, Anna Maria, teilt. Den Geschwistern Mozart hat sie einmal im Frankfurter Konzertsaal beim gemeinsamen Musizieren zuhören dürfen. Sie ahnt nicht, und wir wissen es von Sigrid Damm, dass Bruder Wolfgang Anna Maria einst zugerufen haben soll: „Ich habe mich recht verwundert, daß du so schön komponieren kannst“ und der Vater meinte, sein „Mädel“ sei „eine der geschicktesten Spielerinnen in ganz Europa“. A
ls sie siebzehn Jahre alt wird und heiratsfähig, darf sie das Haus nicht mehr verlassen, also nicht mehr reisen und Konzerte geben. Ihr Lebensinhalt: nur noch auf einen Mann warten.
Ähnliches vollzieht sich zwischen Bruder und Schwester Goethe. Student Wolfgang schreibt im 13. und letzten Brief aus Leipzig am 11. Mai 1767: „Mich überwältigt dein Brief, deine Schriften, deine Denkungsart. Ich sehe darinne nicht mehr das kleine Mädgen, die Cornelia, meine Schwester, meine Schülerin, ich sehe einen reifen Geist, eine Riccoboni (Marie-Jeanne Riccoboni, italienische Schriftstellerin und Schauspielerin – P. U.), eine fremde Person, einen Autor, von dem ich selbst itzo lernen kann. Oh meine Schwester, bitte keine solchen Briefe mehr, oder ich schweige.“
Nur Bilder blieben erhalten
Bruder Wolfgang hat seine Schwester gezeichnet und auch ein paar Worte zu ihrem Äußeren gesagt, Sigrid Damm nahm sich für ihre Beschreibung die Zeichnung von Johann Ludwig Ernst Morgenstern vor: „Es ist mir das vertrauteste. Eine Frau, sensibel, erotisch, mit empfindsamen Zügen. Eine eigenwillige, faszinierende Schönheit. Nichts Gefälliges. Da will nichts nach außen strahlen. Aber etwas ruht in ihr, scheinbar von niemandem erweckt, von niemandem gebraucht.
Eine berührende, betroffen machende Einsamkeit geht von dem Bild aus und zugleich eine große Ermutigung, eine innere Kraft, die ich sonst nur von den Selbstporträts der Paula Modersohn-Becker und der Frida Kahlo kenne. Cornelia Goethes Kopf ist nach vorn geneigt, der Blick gesenkt, die Augen von den Lidern verdeckt. Schwere Lider. Eine schmale Nase.
Das volle lange Haar ist nach hinten gekämmt und aufgesteckt, ganz natürlich. Ein Bild ohne die geringste Spur von Koketterie, ohne Pose. Der Maler Johann Ludwig Ernst Morgenstern hat das Porträt geschaffen. Es ist eine Rötelzeichnung, weiß gehöht. Zwischen 1772 und 1775 entstanden, vielleicht als Cornelia schon eine verheiratete Frau ist, ein Kind in ihrem Leib trägt.“
Nach dem Tod seiner verheirateten, nur noch als Hausfrau und Mutter dahinlebenden Schwester vernichtet Bruder Wolfgang all ihre Briefe und andere Schriften. (Warum wohl? Ein Schelm, wer Arges dabei denkt!)
Sigrid Damm hat es unternommen, aus den Antwortbriefen des Bruders, ihrem Tagebuch und Äußerungen von Zeitgenossen ein Lebensbild der Cornelia Goethe zu rekonstruieren.
Ein Leben, das so hoffnungsvoll begann …
Als Heranwachsende bekommt Cornelia Goethe im väterlichen Haus in Frankfurt/Main die gleiche Erziehung und Bildung wie ihr Bruder Johann Wolfgang. Sehr ungewöhnlich für ein Mädchen in diesen Zeiten, aber nachvollziehbar bei solch einem bildungsbeflissenem, strengen Vater wie Johann Caspar Goethe.
Sie lernt mehrere Instrumente spielen, einige Sprachen, galante Umgangsformen; eben alles, was künftige Bildungsbürger vom übrigen Volk damals unterscheidet. Mit dem etwas älteren Bruder verbindet sie ein enges, geschwisterliches Verhältnis. Als er aber das Haus verlässt, um in Leipzig zu studieren, wird plötzlich alles anders. Erst hat ihr der streng darauf achtende Vater einen guten Start ihrer Persönlichkeitsentwicklung eröffnet, und dann, sie ist 14 Jahre alt, muss sie zu Hause bleiben, gleich den anderen Mädchen.
„Ihre Ausbildung ließ sie einen Blick in das Paradies werfen, den Fuß für einen Augenblick in die Tür setzen, ehe diese heftig zugeschlagen wird“, schreibt Sigrid Damm (die übrigens am gleichen Tag Geburtstag hat wie Cornelia, nur 190 Jahre später), in: „Einmal nur blick ich zurück“ (Kapitel: „Nicht viel werden wir mehr von Liebe reden. Goethes Schwester“), Berlin 2010.
Die ganze Tragödie dieser Frau ist nachzulesen in: „Cornelia Goethe“ ebenfalls von Sigrid Damm, Frankfurt/Main und Leipzig 1992. Wer sich speziell für Cornelia interessiert, sollte sich unbedingt dieses insel taschenbuch von 1992 zu Gemüte führen. Da wird uns ein Frauenschicksal mit viel Einfühlungsvermögen und gut lesbar nahegebracht.
Aber Cornelia stand noch und viel früher als bei Sigrid Damm unter Beobachtung eines Leipziger Germanisten: Georg Witkowski (*11.09.1863 Berlin; †21.09.1939 Amsterdam). Dieser hat bereits 1903 ein Buch über „Cornelia, die Schwester Goethes“ geschrieben, das in Frankfurt/Main erschienen ist.
1932 folgte in Berlin dann von ihm „Das Leben Goethes“, aus dem hier nur als Kostprobe ein Zitat aus der Seite 34 dienen möge: „Klopstocks Messias und seine ernsten antik geformten Oden erschienen der Generation, der Goethes Vater angehörte, kunstwidrig, unverständlich und unerfreulich; während er die älteren Dichter seiner Zeit in stattlichen Bänden seiner Bibliothek einverleibte, mußten Wolfgang und Cornelia sich heimlich den daraus verbannten Messias verschaffen.
Das angeborene Gefühl des Großen und Echten in der Kunst, daneben der tiefe Empfindungsgehalt der Klopstockschen Dichtung ließen dem jungen Goethe und seiner Schwester das große Epos Klopstocks zu einem Quell der Begeisterung werden, der sie berauschte“.
Über die ebenfalls nur 26 Jahre alt gewordene, 30 Jahre später geborene Karoline von Günderode hat Christa Wolf 1979 das Buch: „Der Schatten eines Traumes“ mit Gedichten, Prosa und Briefen der Günderode herausgegeben. In einem Essay benennt sie die gesellschaftlichen und persönlichen Ursachen, die schließlich solche Frauenschicksale prägten.
Nicht alles habe ich hier aufgeschrieben. Mir ging es weniger um das Faktische ihres Lebenslaufs, als vielmehr um ihre Persönlichkeit. Auf einer der letzten Seiten ihres Cornelia-Buches schreibt Sigrid Damm: „Cornelia – Freundin für mich, Vertraute, nahe, zärtlich Verstandene. Ihre letzten Wochen. Was geht in ihr vor, frage ich mich? Trägt sie, ein weiblicher Werther, die ‚Krankheit zum Tode‘
bereits in sich, bevor sie der Bruder beschreiben wird. Sie, die ihrem Tagebuch an ihrem achtzehnten Geburtstag rücksichtslos anvertraut, daß die Zukunft wie ein ‚Traum‘ vergehen werde, ‚mit dem Unterschied, daß ich Unglück erwarte, das ich noch nicht kenne‘.
Nicht aus Lebensüberdruß schreibt sie das, sondern aus Sehnsucht nach einem sinnvollen Leben, von dem sie nicht einmal weiß, wie es aussehen soll; gestaltlose Wünsche, die nur in Schweigen münden können. Daher steht am Ende ihres Tagebuches die Rebellion gegen die Weiblichkeit und in der Folge die Verneinung, die Selbstabtötung.“
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