Endphaseverbrechen: Als solche werden „… nationalsozialistische Verbrechen …, die in den letzten Wochen und Monaten des Zweiten Weltkrieges begangen wurden … verstanden.“ Zweiundneunzig Orte des Massenmordes der Faschisten genau umfasst jene Liste, die ein Lexikon nennt. Leipzig ist darunter, Chemnitz, das kleine Bad Schmiedeberg. „… im Umfeld der Strafverfolgung dieser Verbrechen in Deutschland und Österreich nach 1945 geprägt …“, lese ich weiter.

Deutschland nach 1945? Aber welches denn? Es waren doch deren zwei? Oder drei. Oder vier? Denn die Saar und der Osten, der echte, ehemalige, unter „polnischer Verwaltung“ stehende, der gute, der liebe alte Osten … Ja, was nun?

Da ist auf den ersten Blick etwas schwer korrekturbedürftig, denn die im Weiteren benannte Amnestie für Massenmörder beruht auf dem Straffreiheitsgesetz vom 17. Juli 1954, welches von Bundestag und Bundesrat beschlossen worden war – demnach also auf westdeutschem Boden. Hier wurde schließlich abgesegnet, was dort vor Gerichten längst Praxis war: Braune Juristen halfen ihren Gesinnungsgenossen. Also korrigiere ich. Korrigieren ist doch erlaubt, ausdrücklich gewünscht sogar. Wo? Na in dem besagten Internetlexikon!

Ich ändere also. Antwort von Wikipedia: „rückgängig“

Abgesehen davon, dass der überwiegende Teil der Juristen in der jungen Bundesrepublik sich aus solchen, die schon vor dem Ende des Hitler-Faschismus tätig waren, rekrutierte, wird noch für die 1960er Jahre festgestellt, dass sich darunter sage und schreibe achthundert Juristen, die sogar den brutalen NS-Sondergerichten vorstanden, dienstbeflissen tummelten (Braunbuch, S.116; Müller 2014, S.258f)). Schauen wir in den Gesetzestext von 1954, Paragraf sechs: „Für Straftaten, die unter dem Einfluß der außergewöhnlichen Verhältnisse des Zusammenbruchs in der Zeit zwischen dem 1. Oktober 1944 und dem 31. Juli 1945 in der Annahme einer Amts-, Dienst- oder Rechtspflicht, insbesondere aufgrund eines Befehls, begangen worden sind, wird … Straffreiheit gewährt, wenn nicht dem Täter nach seiner Stellung oder Einsichtsfähigkeit zuzumuten war, die Straftat zu unterlassen …“

Was für eine Zumutung demnach, einen Mord zu unterlassen! Im Kommentar zu diesem Gesetz, verfasst von Herrn Ministerialrat Dr. Elmar Brandstetter, Bonn, zuvor Oberfeldrichter beim Oberkommando des Heeres, wird ausgeführt, dass unter dem „Einfluß der außergewöhnlichen Verhältnisse des Zusammenbruchs“ eine „unheilvolle Verwirrung aller Vorstellungen über Rechtsordnung, Gerechtigkeit und Menschlichkeit“ anzunehmen ist (Brandstetter 1954, S. 87).

Und der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Klaus Dieter Arndt sprach mitfühlend sogar von einer „Gewissensnot“ der Täter (Brandstetter 1954, S.89). Eine perfide Psychopathologisierung der Mordbrennerei, die aber keineswegs erst am 1. Oktober 1944 begann, sondern – nicht zu vergessen – bereits am 30. Januar 1933!

Titelblatt Brandstetter: Straffreiheitsgesetz. Foto:  Archiv des Autors
Titelblatt Brandstetter: Straffreiheitsgesetz. Foto: Archiv des Autors

Ich ändere erneut. Antwort von Wikipedia: „Keine Verbesserung des Artikels“

Dieses Vokabular bleibt uns also unumstößlich verankert. Nicht mal ein „Sogenannt“ steht die Wikipedia der beschämenden Floskel zu, die in ihrem juristischen Gebrauch laut elektronischem Verweis auf eine Kapitelüberschrift in einer Urteilssammlung aus dem Jahre 1968 zurückgeht. Als ob sie heute noch gültig wäre!

Ob sie heute noch gültig ist? Und ob sie noch gültig ist! Erfolgte jemals eine systematische – juristische wohlgemerkt! – Aufarbeitung dieser täteraffinen Urteile, spätestens im vereinten Deutschland? Nach und nach, zuletzt in den Neunzehnhundertneunzigern schliefen die „Endphasetäter“ friedlich, unbehelligt und pensionsgesichert ein.

Zusammenbruch und Endphase – der Nazi-Helfer-Sprech bleibt uns als juristischer Terminus also erhalten. Für das wie auch immer benannte Nachkriegsdeutschland, nun unser gemeinsames Deutschland, welches ja ein Nachkriegs- und, den Kriegstüchtigkeits-Fantasien vieler Politiker gemäß, demnächst bald wieder Vorkriegsdeutschland ist.

Und irgendwie dämmert es mir: Die braune Soße des Chauvinismus und Militarismus ist bis heute eine nicht wegzudenkende Beigabe zu den vielfältigen Gerichten unserer deutschen Küche. Da fantasiert eine freiheitlich-demokratische Europaparlamentarierin schon mal in der Heute-Show von ihrer eigenen Volkssturmtauglichkeit, die Berliner Morgenpost „heizt den Russen ein“, ein ehemaliger Außenminister will Russland „niederkämpfen“, während einer seinesgleichen, ein befreundeter, durchs Land reisend Apotheosen über Nazi-Kollaborateure verbreitet, derweil die vielen sonst so Lauten im Lande sich in Schweigen hüllen. Und: Welcher Jude kann heute und hierzulande seine Religiosität noch auf offener Straße zeigen?

Noch etwas lässt mich an der Tastatur nicht zur Ruhe kommen: Paradoxerweise antizipiert die Nennung ostdeutscher Städte unter dem Artikeleintrag den Beitritt der DDR zur BRD um Jahrzehnte, war die Rechtsordnung damals drüben eine andere als hüben. Warum also nachträglich diese Geschichtsklitterung?

Ich ändere abermals. Antwort von Wikipedia: „Revert“

Reflektieren, Probleme anpacken – weit gefehlt. Da hat unsere teutonische Arroganz etwas im Verstandskästlein ausgemerzt: nämlich die Kritikfähigkeit. So ist die Starrheit der änderungsresistenten Lexikon-Administratoren zudem ein beredtes Zeugnis der Dialogunfähigkeit in unserem Land. Dialog setzt den Blick in den Spiegel voraus, den aus Glas, versteht sich.

Ich gebe auf. Meldung von Wikipedia ohne mein Zutun: „Auf die letzte Version von […] zurückgesetzt.“

Während die Bundesrepublik unter großen Mühen bis zum Jahre 1998 brauchte, um die Standgerichte des Volksgerichtshofes, auch die der „Endphase“, zu annullieren, noch einmal bis 2002 mit sich rang, um die Kriegsgerichtsurteile gegen Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aufzuheben, wurde das Straffreiheitsgesetz jedenfalls nie für ungültig erklärt, obwohl ihm dieselben Akteure und derselbe Geist eigen waren.

Der Dialog mit der Wikipedia hat mich weitergebracht. Das Lexikon hat recht. Das braune Erbe dümpelt in uns fort. Ein Lichtblick, die zeitgenössische Rezension eines Tübinger Professors zu Brandstetters Kommentar:  „Dieses Bemühen wird dem Werk bleibenden wissenschaftlichen Wert und dauernde praktische Bedeutung für etwaige künftige Amnestien geben.“

Quellen:
Brandstetter, Elmar: Straffreiheitsgesetz 1954. Kommentar. Berlin und Frankfurt a.M.: Verlag Franz Vahlen GmbH. 1954 [Anm.: Die im Text am Schluss zitierte Rezension ist einer losen Beilage im Buch mit dem Titel: „Aus Urteilen über den Kommentar von Ministerialrat Brandstetter zum Amnestiegesetz von 1949“ entnommen.]

Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik. Hrsg.: Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland. Dokumentationszentrum der staatlichen Archivverwaltung der DDR. Berlin: Staatsverlag der DDR. 1965.

Müller, Ingo: Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit der deutschen Justiz. Berlin: Tiamat-Verlag. 2014.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Die og Handlungsweise ist sehr befremdlich. Im Abschlussbericht der ” Akte Rosenburg” , welche die Nazi- Verstrickung der frühen Juristen im BJMV darstellt und aufarbeitet, wird empfohlen, die juristische Einordnung der Urteile zu korrigieren.

Schreiben Sie einen Kommentar