Fachkollegen hätten ihn ausdrücklich gewarnt, sagte Museumsdirektor Dr. Anselm Hartinger am Dienstag: Das Thema „qualmt“, weil Beteiligte meist noch leben, es ist wahnsinnig komplex und durchaus ein Risiko, es museal umzusetzen. Doch das Stadtgeschichtliche Museum in Leipzig hat es getan. Unter dem Titel „Zwischen Aufbruch und Abwicklung“ ist eine neue Ausstellung zum Leipzig der 90er-Jahre nach längerer Vorarbeit ab morgen der Öffentlichkeit zugänglich.

„Sollten Sie mal eine Ausstellung machen, empfehle ich Ihnen nicht, sie über ein Jahrzehnt zu machen“, erklärt Aiko Wulff mit einem Augenzwinkern am Dienstag. Wulff ist Projektleiter und einer der Kuratoren der neuen Ausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums „Zwischen Aufbruch und Abwicklung. Die 90er in Leipzig“, die heute vorab den Medien präsentiert wurde. Ab morgen können Besucher sie im Böttchergäßchen bestaunen.

Alles schien möglich, nicht alles wurde wahr

Dass es so weit kommt, scheint nicht unbedingt selbstverständlich. Als die Idee zu einer 90er-Jahre-Ausstellung vor etwa zwei Jahren aufkam, wurde intern durchaus heiß diskutiert. „Es war ein Wagnis, das war uns allen klar. Es ist ja auch ein Novum in ostdeutschen Stadtmuseen“, sagt Kurator und Museumsmitarbeiter Tim Rood gegenüber der LZ.

Seeburgviertel in Leipzig, 1994. Foto: Christoph Sandig
Das Seeburgviertel in Leipzig, 1994. Foto: Christoph Sandig

Denn die turbulente Umbruchszeit, die nach dem Ende der DDR in Leipzig begann, stellt die museale Aufbereitung vor ganz andere Fragen als etwa eine Herrschaftsgeschichte des Mittelalters: Wie will man ein Jahrzehnt einfangen, in dem Aufbruch und Niedergang, Optimismus und Zukunftsangst, Neuanfang und Verfall derart eng beieinanderlagen? Eine Zeit, in der plötzlich alles möglich schien, vieles vorankam und doch zugleich so viele Biografien einen Bruch erfuhren, weil Betriebe schlossen, der Arbeitsplatz futsch war, der beste Freund oder die Partnerin für einen sicheren Job lieber die Koffer packte und gen Westen zog?

Und all diese Menschen von damals leben meist noch, bringen ihr Gepäck an Geschichten, Erinnerungen und Erfahrungen mit, die beispielhaft für das gigantische Puzzle stehen: Großbauprojekte, Hausbesetzungen, Technopartys, Festivals, Sportevents, Konsumtempel, Arbeitslosigkeit, Stasi-Verstrickungen, Glücksritter, Kriminalität, Neonazi-Gewalt, Umweltverschmutzung – die Auflistung ambivalenter Aspekte der 90er ließe sich fast endlos fortsetzen.

Baugerüst als Symbol von Umbruch und Nicht-Perfektion

Etwa 400 Zeugnisse von der Revolution in der DDR bis ans Ende der 90er-Jahre in Leipzig geben nun Aufschluss über die Akribie, mit der das sechsköpfige Kernteam etwa zwei Jahre lang an der Ausstellung gearbeitet und sich der komplexen Herausforderung gestellt hat. Dazu wurden Konzepte erstellt, Menschen befragt, Debatten geführt und Archive durchgegraben.

Als auffälliges Symbol hat das Gestalterbüro „Basis Leipzig“ das Baugerüst gewählt: Es repräsentiert das Zwiespältige, Unperfekte eines Jahrzehnts, das immer noch in vielen Köpfen sitzt und jetzt im Sinne von Aufbruch und Freiheitsgewinn nähergebracht wird, ohne dass Schattenseiten unter den Tisch fallen. Das Gerüst strukturiert den Rundgang durch die kultur- und alltagsgeschichtlichen Themenfelder „Anstöße“, „Aufbrüche“, „Alltag“, „Arbeit“, „Aufarbeitung“ und „Aufschwung.“

Hinrich Lehmann-Grube. Foto: Lucas Böhme
Prägende Figur der 90er-Jahre in Leipzig: Der SPD-Politiker Hinrich Lehmann-Grube (1932–2017) lenkte die Geschicke der Messestadt von 1990 bis 1998 als erster Nachwende-OBM. Foto: Lucas Böhme

Besucher können dabei auf eine Vielzahl persönlicher Erinnerungsstücke, Plakate, Medien, Schriftgüter, Fotos sowie Film- und Hörbeiträge gespannt sein. Und in manch einem wird plötzlich die Erinnerung hochkommen, wenn er oder sie sich vor dem Club-Tresen der Distillery, einem Grufti-Outfit, dem Titelbild einer längst niedergegangenen Zeitung oder einer vertrauten Leuchtreklame wiederfindet.

Zudem hat eine Gruppe Ehrenamtlicher in Vorbereitung der Ausstellung Interviews mit Zeitzeugen verschiedener Herkunft und Altersgruppen geführt, deren Geschichten an Hörstationen die bis heute so prägenden 90er-Jahre wieder lebendig werden lassen.

Impuls und Anstoß für die Gegenwart

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Museums freuen sich jetzt nach der langen Vorarbeit auf das Feedback der Besucherschaft und die kommenden Veranstaltungsformate, welche die fast einjährige Ausstellungszeit begleiten. In einer Zeit von zunehmender Demokratieentfremdung und Rechtsextremismus sei das Thema ein sehr wichtiges, schätzt Kurator Tim Rood ein.

Und sein Chef zeigt sich überzeugt: Zwar sei die Ausstellung durchaus ein gewisses Wagnis, meint Museumsdirektor Dr. Anselm Hartinger. Aber sie könne einen Raum zum Austausch und fairen Streit bieten – und wenn sie den Aufbruchsgeist der 90er wieder etwas mehr in die Gegenwart tragen könne, sei schon viel gewonnen. Ganz nach dem Motto: handeln, einfach machen und auch mal Dinge riskieren.

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Die Sonderausstellung „Zwischen Aufbruch und Abwicklung. Die 90er in Leipzig“ ist vom 25. September 2024 bis 7. September 2025 im Stadtgeschichtlichen Museum, Haus Böttchergäßchen in der Innenstadt zu sehen. Geöffnet ist dienstags bis sonntags sowie auch an Feiertagen jeweils von 10:00 Uhr bis 18:00 Uhr.

Neben einer Begleitpublikation, die bis Ende 2024 entstehen soll, ist ab Ende September eine Reihe von Podiumsdiskussionen, Filmvorführungen und Lesungen geplant. Mehr Informationen finden Sie auf der entsprechenden Seite des Stadtgeschichtlichen Museums.

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