Ein Ereignis, historisch Interessierten wohlbekannt und künstlerisch schon mehrfach gestaltet: Zu nennen ist da Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“, durch des Dichters Tod im Februar 1837 nicht vollendet, schließlich nach entsprechenden Bearbeitungen am 8. November 1913 in München uraufgeführt; und zu erinnern sei auch an die Leipziger Premiere des „Woyzeck“ am 27. April, angekündigt mit Informationen zum Hergang des harten Urteils hier in der LZ am 1. April.

Am 27. August jährt sich nun der Tag der öffentlichen Hinrichtung des Friseurgehilfen Woyzeck zum 200. Male.

Der Delinquent

Johann Christian Woyzeck, der am 3. Januar 1780 in Leipzig geborene Soldat, erstach am 2. Juni 1821 Johanna Christiane Woost und stellte sich am selben Abend der Polizei. Der Prozeß zog sich dann über drei Jahre hin: Todesurteil am 22. Februar 1822; Hinrichtung für 13. November 1822 geplant; Vollstreckung am 10. November 1822 ausgesetzt wegen gutachtlicher Bestätigung seiner Zurechnungsfähigkeit trotz mehrerer Hinweise, die eher das Gegenteil bestätigten.

Die Hinrichtung

Aus nahezu zeitgenössischer Quelle erinnert uns das Leipziger Tageblatt vom 27. August 1874 an
Eine Leipziger Bluttat vor 50 Jahren. Die letzte Augustwoche des Jahres 1824 sah Leipzigs Bürger in einer nicht geringen Aufregung: ein seit über drei Jahre spielender Leipziger Criminalpriceß sollte seinen blutigen Abschluß erhalten.

Auf dem Marktplatze erhob sich ein Blutgerüst. Das schreckliche Schauspiel einer Hinrichtung vollzog sich heute vor 50 Jahren an einem Freitag. Erwarte man keine Beschreibung derselben aus unserer Feder. Nur konstatiert möge werden, daß damals das ‚Allergnädigst privilegierte Leipziger Tageblatt‛ schon am Tage nach dem Ereigniß darüber Bericht erstattete, was für jene Zeiten etwas ebenso Ungewöhnliches als die Hinrichtung selbst war. Selbstverständlich hatte das Trauerspiel eine unzählige Menschenmenge auf unserm Marktplatz und angrenzenden Straßen zusammengeführt. Die Ordnung unter derselben hielten die städtische Polizei, namentlich aber ein Commando des zweiten leichten Reiterregiments ‚Prinz Johann‛, eine 1822 aus Husaren umfirmirte Truppe, aufrecht.

Der verhängnisvolle Schwertstreich geschah mit der im Interesse der Menschlichkeit erwünschtesten Sicherheit und Schnelligkeit.

Johann Christian Woyzeck (Kreidelithographie, um 1822, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig -  gemeinfrei
Johann Christian Woyzeck (Kreidelithographie, um 1822, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig – gemeinfrei)

Schuldiger Dank für glückliches Gelingen

Bezeichnend für jene weit hinter uns liegende Zeit ist nachstehende Annonce (Tageblatt vom 31. August 1824, S. 256):

‚Schuldiger Dank. Dem wohllöblichen vereinigten Criminal- und Polizei-Amte, E. E. Hochw. Raths, den Königl. Cavallerie- und Infanterie-Commandos, sowie dem gesammten Publiko, und unter diesem besonders den achtbaren Herren Studirenden für die so ausgezeichnete Erhaltung der Ordnung bei der am 27. ds. Mts. durch mich allhier vollzogenen Hinrichtung Woyzeck’s, deren glückliches Gelingen dadurch sehr befördert wurde, meinen wärmsten, innigsten Dank. Zugleich versichere ich den humanen und zuvorkommenden Bewohnern Leipzigs, daß ich mich der von ihnen erhaltenen Beweise ungeheuchelten Wohlwollens, sowie der freundlichen Aufnahme in ihren geselligen Zirkeln stets dankbar erinnern werde.
Leipzig, den 31. August 1824. Johann Andreas Körzinger, Scharfrichter aus Lommatsch.‛

Dies Zeugniß des Wohlverhaltens, unseren Altvorderen von einem Henker mit so bezeichnendem Namen ausgestellt, spricht allein für sich.“

Was aber hatte Johann Christian Woyzeck verbrochen?

„Ein Leitartikel des Tageblattes, der die beiden Tage vor der Hinrichtung die Spalten füllte, belehrt uns zur Genüge.

Johann Christian Woyzeck war ein geborner Leipziger von polnischer Abkunft, Sohn eines Friseurs und selber Friseur, der sich vom 18. bis 24. Lebensjahre in der Fremde umgesehen und bald als Gewerbsgehülfe, bald als Diener conditionirt, dann in Leipzig Kupferstiche illuminirt, im Magazine gearbeitet hatte, in Barneck Bedienter gewesen, dann (Herbst 1806) in holländische, später, bei Stralsund von den Schweden gefangen genommen, in schwedische, noch später in mecklenburgische, wieder in schwedische, endlich in preußische Kriegsdienste getreten war und so 12 Jahre unter verschiedenen Fahnen gedient hatte und nach und nach verwildert war … Vom December 1818 an lebte er wieder in seiner Vaterstadt, aber nicht von seiner Hände Arbeit, sondern auf Anderer Kosten; unter Diesen war eine Chirurgenwittwe, eine notorische Soldatenfreundin im liberalsten Sinne. Das intime Verhältniß zu dieser Frau lockerte sich, weil Woyzeck dem Trunk ergeben war und die Frau ihrerseits seine Eifersucht fort und fort rege gemacht hatte. Der frühere Buhle beschloß ihrer Tod. Am Abend des 2. Juni 1821 erstach er sie am Eingange ihrer Wohnung auf der Sandgasse mit einem alten, besonders dazu hergerichteten Degen durch sieben Stiche, von denen einer sofort tödtlich war. Der Prozeß dauerte über drei Jahre, da man sich über die Zurechnungsfähigkeit des Mörders nicht recht klar werden konnte. Hofrath Prof. Dr. Clarus (Kreisamts-, Universitäts- und Stadtphysikus) hat darüber eine eigne Schrift veröffentlicht, welche die Zurechnungsfähigkeit des Mörders als nachgewiesen und dessen gestörte Seelenzustände als nur auf Sinnestäuschungen beruhend darstellt.“

Ein Urteil gegen die öffentliche Meinung

Hier nicht erwähnt ist das Gutachten des mehrfach dekorierten und in verschiedenen Funktionen arbeitenden Mediziners Johann Christian August Clarus (1774-1854) – so leitete er, was besonders hervorzuheben ist, als Stadtphysikus die Kriegslazarette nach der Völkerschlacht bei Leipzig und bekam dafür 1814 ein Ritterkreuz.

Clarus führte mit Woyzeck fünf Gespräche und attestierte in einem Gutachten vom 16. September 1821 trotz Aufzählung einiger bedenklicher Merkmale dessen Zurechnungsfähigkeit. Der bereits festgelegte Termin – 13. November – der Hinrichtung wurde drei Tage vorher ausgesetzt, weil ein Augenzeuge Woyzecks Verwirrung bestätigt hatte.

Daraufhin bekam Clarus nochmals (!) den Auftrag, ein zweites Gutachten anzufertigen. Nach weiteren Gesprächen mit Woyzeck bestätigte Clarus in einem zweiten Gutachten vom 28. Februar 1823 erneut Woyzecks Zurechnungsfähigkeit trotz zahlreicher Hinweise (von Clarus selbst gegeben!) auf eine Krankheit. Die öffentliche Meinung jedoch hielt Woyzeck für geistesgestört – ein Grund für Clarus, 1828 seine Abhandlung „Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmäßig erwiesen“ zu veröffentlichen.

Aus heutiger Sicht wäre ein zweites Gutachten nur durch einen anderen kompetenten Gutachter statthaft gewesen. Und ein Gutachten „nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde“ wohl auch nicht.
Aufgrund der hier nicht im einzelnen genannten, von Clarus festgestellten Hinweise auf Woyzecks Zustand käme als Diagnose eine Paranoia in Frage. „Am 27. August 1824 wurde auf dem Marktplatz von Leipzig ein psychisch Schwerkranker geköpft.“ (Alfons Glück: „Der historische Woyzeck“, Frankfurt am Main, 1987).

Am 4. Oktober 1823 erklärte das zuständige Gericht, Woyzecks Zurechnungsfähigkeit sei erwiesen. Am 12. Juli 1824 befahl der Kriminalrichter und spätere Bürgermeister von Leipzig Christian Adolf Deutrich (1783-1839) die Vollstreckung.

Für einen Dichter vom Format eines Jean de La Fontaine wäre das damals der Stoff für eine belehrende Versfabel gewesen.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Redaktion über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar