Im Juni 1923 sterben in Leipzig fรผnf Menschen bei sogenannten Teuerungsunruhen. Weil Erwerbslose nur mit Mรผhe und meist selbst damit nicht sich und ihre Familie ernรคhren kรถnnen, eskaliert die Lage nach einer Versammlung des Arbeitslosenrats. Tausende ziehen durch die Stadt, am nรคchsten Tag dann Schรผsse โ€ฆ

In Zeiten der Not sind die Freuden rar. Fรผr die โ€žjahrhundertealteโ€œ Schรผtzengemeinschaft Leipzigs gibt es sie. Das Mitteldeutsche BundesschieรŸen findet Anfang Juni 1923 in Leipzig statt, und zwar โ€žin der Nรคhe der Hindenburgbrรผcke am Ausgang des Rosentalesโ€œ, dort, wo sich der Schรผtzenverein eine neue Heimstรคtte errichtet hat. Gemeint ist das auch heute noch als solches bekannte und aktive Schรผtzenhaus. In den Leipziger Neuesten Nachrichten heiรŸt es dazu: โ€žAm Nachmittag entwickelte sich ein frischfrรถhlicher Betrieb, wenn auch nicht in dem Umfange wie in der Vorkriegszeit.โ€œ

Unruhe gibt es derweil unter den Arbeitslosen in Leipzig. โ€žTeuerungsunruhen in Leipzig โ€“ Zerstรถrungen im Kaffeehaus Felscheโ€œ lautet die รœberschrift auf Seite 1 der LNN und das ist ungewรถhnlich, wird hier doch sonst zunรคchst รผber die Ereignisse im Reich oder in Europa berichtet. Der Ruhrkampf hatte fast schon ein Abonnement auf die groรŸe รœberschrift auf Seite 1. Doch was ist geschehen?

Die Anzahl der Erwerbslosen ist in Leipzig in den letzten Wochen rasant gestiegen, da zahlreiche Industrien ihren Betrieb einschrรคnken mussten โ€žund so wird es fรผr tausende von Arbeitern immer schwieriger, sich eine, wenn auch noch so bescheidene Existenz zu grรผnden.โ€œ

Wir erinnern uns an den Beginn der Zeitreise. Am Ende des Jahres 1923 werden รผber 40.000 Menschen in Leipzig arbeitslos sein, die Stadt befindet sich in einem massiven Wachstum, die Einwohnerzahl steigt von 604.000 im Jahr 1919 auf fast 675.000 im Jahr 1925. Mitten in dieser Entwicklung kommt es zu enormen Teuerungen bei Lebensmitteln und gleichzeitig vermehrter Arbeitslosigkeit. Die Enge der wachsenden GroรŸstadt lรคsst Funken leicht รผberspringen.

Grund fรผr die Teuerung ist letztendlich โ€žder franzรถsische Militarismus, dessen Schuldkonto damit immer mehr anschwilltโ€œ, so heiรŸt es in der benannten Zeitung. โ€žDass ein arbeitsloser Familienvater von der empfangenen Unterstรผtzung kaum das trockene Brot beschaffen kann, ist eine ebenso unbestreitbare Tatsache, wie die Lage des Staates und des Reiches in finanzieller Hinsicht immer schwieriger geworden ist.

DaรŸ die Stimmung dieser vom Schicksal besonders hart Betroffenen nicht gerade besser ist, wenn sie sehen, wie tรคglich eine kleine Schicht vom Glรผck und der Konjunktur Bevorzugter ein รผppiges Leben fรผhrt, ist psychologisch erklรคrlich.โ€œ

Wer konkret gemeint ist, bleibt zunรคchst offen. Die Rรคdelsfรผhrer der Unruhen sind dagegen schnell ausgemacht. Es ist der โ€žpolitische Linksradikalismusโ€œ, der die Erwerbslosen fรผr seine Zwecke instrumentalisiert.

Am Montagvormittag hatte der Arbeitslosenrat zu einer Versammlung in den Saal des Palmengartens im damaligen Palmenhaus, was Ende der 30er Jahre einer nie vollendeten Gutenberg-Ausstellung weichen musste, geladen, an der laut Polizeibericht 5.000 Personen teilnahmen. Im Anschluss daran zog die Hรคlfte derer, wie es heiรŸt, diszipliniert zum Ring und dann zum Neuen Rathaus und schlieรŸlich zum Reichsgericht, dem heutigen Bundesverwaltungsgericht.

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Cover Leipziger Zeitung Nr. 124, Vร– 03.05.2024. Foto: LZ

Unterwegs hatte man eine Deputation ins Neue Rathaus entsandt, um mit dem Rat der Stadt รผber die Forderung der Erhรถhung der Erwerbslosenhilfe zu verhandeln. Die Deputation kehrte allerdings unverrichteter Dinge zurรผck, da diese Angelegenheit eine reichsweite sei. Der Fรผhrer der Deputation, ein Mann namens Helbig, mahnte die Masse zur Ruhe, was allerdings nicht alle erreichte.

โ€žEinzelne junge Burschenโ€œ sollen in die Menge โ€žHungerโ€œ und โ€žDas sind wieder leere Worte, Genossen, man will uns wieder mit nichts abspeisen, jetzt wollen wir Tatsachen sehenโ€œ gerufen haben. Fรผr โ€ždie Tatsachenโ€œ taten sich die โ€žradaulustigen Elementeโ€œ zusammen und marschierten zum Cafรฉ Felsche am Augustusplatz, was im 2. Weltkrieg zerstรถrt wurde.

Was dann passiert, fasste der Redakteur der LNN zusammen: โ€žMit eisernen Gartenstรผhlen, die in der Veranda vor dem Hause aufgestellt waren, zertrรผmmerten sie die Fensterscheiben, auch ein Teil der Veranda und der aufgestellten Schmuckpflanzen wurde vernichtet. Dann drangen einige Burschen in die Rรคume ein, warfen Tische und Stรผhle um und gebรคrdeten sich wie die Vandalen.โ€œ

Danach hielt ein Kommunist noch eine Ansprache an die โ€žTumultantenโ€œ, in der er sie fรผr eine weitere Aktion am Mittwoch, also dem kommenden Tag, einschwor. Er wollte in der Zwischenzeit mit dem Gewerkschaftskartell und den sozialdemokratischen Fรผhrern รผber eine Arbeitsniederlegung aller Betriebe in Leipzig sprechen.

AnschlieรŸend soll es noch, laut Augenzeugen, einen Sturm auf die Markthalle gegeben haben, um an Lebensmittel zu kommen. Diese war allerdings verriegelt. Der Trupp teilte sich in der Folge und 150โ€“200 Personen marschierten die Reitzenhainer StraรŸe entlang, die heutige Prager StraรŸe, bis zum Kรถnigin-Luise-Haus, gegenรผber des Haupteingangs des Sรผdfriedhofs.

โ€žDort verlangten sie sofort ein Mittagessen, andernfalls wรผrde das Gebรคude demoliert werden. Die Leiterin des Gemeinnรผtzigen Unternehmens erbot sich sofort fรผr 150 Personen ein warmes Mittagessen fertigstellen zu lassen, doch muรŸten sie sich eine Stunde gedulden und im Garten Platz nehmen.โ€œ

Die eintreffende Polizei lieรŸ die Burschen auf Wunsch der Leiterin in Ruhe, die eine Stunde war ihnen aber zu lang, sodass sie am Ende kein Mittagessen erhielten. Erst als der Mob in Probstheida noch einen Bรคckerladen plรผnderte, wurde die Polizei ihrer in Holzhausen habhaft und setzte einen GroรŸteil fest. Im amtlichen Bericht spricht die Polizei unter anderem von โ€žlichtscheuen Elementenโ€œ.

Gerรผchte รผber Unruhen hatte es bereits Sonntag gegeben, weswegen am Montag zahlreiche Geschรคfte und Restaurants in der Innenstadt geschlossen blieben.

Ironie des Schicksals: Der Besitzer des Cafรฉ Felsche bezifferte den Schaden in seinem Haus auf 20 Millionen Mark, weswegen er die 96 Mitarbeiter zunรคchst nicht weiterbeschรคftigen kann, da die Wiederherstellungsarbeiten teuer seien und lang dauern werden. Die Zahl der Arbeitslosen hat sich dadurch also erhรถht. Die Polizei knรผppelte am Abend noch gegen zwei Ansammlungen in der Stadt.

ร„hnliche Ausschreitungen gab es zu jener Zeit auch in Berlin, Dresden und Bautzen.

Auch Dienstag, der 6. Juni, war von den Unruhen geprรคgt. Tagsรผber blieb es zunรคchst ruhig. Eine weitere Versammlung auf dem Platz vor dem Reichsgericht verlief ohne Zwischenfรคlle. Am Abend versammelten sich allerdings zahlreiche Menschen erneut auf dem Augustusplatz mit StoรŸrichtung Cafรฉ Felsche. Die Polizei konnte vor 20 Uhr die Menge zerstreuen, nach 21 Uhr โ€žmehrten sich die Massenโ€œ allerdings erneut. Vor allem Minderjรคhrige taten sich durch โ€žJohlen, Pfeifen und durch Steinwรผrfeโ€œ hervor.

Gegen halb 10 war die Menge auf mehrere Tausend angewachsen, darunter auch zahlreiche Neugierige. Die Polizei war nun in klarer Unterzahl, nur fรผnf Polizisten schรผtzten den Eingang in die Stadt an der Grimmaischen StraรŸe. Nach einem StoรŸ gegen einen Beamten kam es zum Tumult und zu Festnahmen. โ€žVon der Schutz- und Stichwaffe wurde auch bei diesem AnlaรŸ kein Gebrauch gemacht. Die Sipo leistete wieder Uebermenschliches an Selbstbeherrschung und Zurรผckhaltungโ€œ.

Doch was der Redakteur bei Redaktionsschluss nicht wusste: Die Lage sollte sich noch derart zuspitzen, dass es am Ende der intensiven StraรŸenkรคmpfe sogar an diesem Abend noch Tote und zahlreiche Verletzte geben wรผrde. Fรผr die LNN sind unter anderem โ€ždie Gestalten aus dem Seeburgviertelโ€œ, offensichtlich damals ein Hort der kommunistischen Politik, an der Eskalation schuld.

Doch was genau vorgefallen ist, vermag erstmal keiner zu รผberblicken. โ€žEin Schuss peitscht auf. Niemand weiรŸ zunรคchst woher. Salven folgen. Panik. Das traurige Ergebnis: 5 Tote, 37 Schwer-, 60 Leichtverletzte. Einem Schupomann saรŸ sein eigenes Bajonett zwischen den Rippen.โ€œ Fรผr die LNN ein Unglรผckstag, ein รผberheizter Kessel ist geplatzt. โ€žDie Heizer waren fern vom Ort der Katastrophe; wie immer โ€ฆโ€œ Die Zeitung verรถffentlicht auch die Namen der Toten. Sie sind auf dem Mikrofilm des Stadtarchivs nur schwer zu lesen.

Als Reaktion verbietet der Leipziger Polizeiprรคsident alle Versammlungen und Umzรผge unter freiem Himmel. Die Leipziger Stadtverordnetensitzung stimmt einem Dringlichkeitsantrag zu, der von der Reichsregierung die Verdopplung der Sรคtze fรผr die Erwerbslosen versammelt. Mit dieser Forderung hatte einen Tag zuvor alles begonnen โ€ฆ

โ€žZeitreise ins Jahr 1923: Tote bei Teuerungsunruhen in Leipzigโ€œ erschien erstmals im am 03.05.2024 fertiggestellten ePaper LZ 124 der LEIPZIGER ZEITUNG.

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