Seit dem 1. November 1950 gibt es in Leipzig eine Ernst-Toller-Straße. Und eine Ernst-Toller-Gesellschaft in Karlshuld, eine Gemeinde in Bayern, bewahrt und propagiert das Erbe dieses Schriftstellers „im Spannungsfeld von Literatur und Politik“ mit einer Schriftenreihe seit 1999. Allgemein bekannt ist, dass sich Ernst Toller (1893–1939) im Ersten Weltkrieg zum Kriegsgegner und Linkssozialisten entwickelt hat und in den Jahren 1918/19 einer der führenden Köpfe der Revolution und Münchner Räterepublik gewesen war.

Wofür er zu einer fünfjährigen Festungshaft – vom 3. Februar 1920 bis 15. Juli 1924 – verurteilt wurde. Er schuf in dieser Zeit seine wichtigsten expressionistischen Dramen. Was dann, „1924 Juli“ passierte, erfährt man im Internet bei „LeMO Ernst Toller“ nur in einem Satz: „Entlassung aus der Festungshaft. Er zieht nach Berlin, weil er aus Bayern ausgewiesen wird.“

In diesem letzten Satz, formuliert im Deutschen Historischen Museum, wird Tollers Aufenthalt und Wirken in Leipzig nicht erwähnt. Seinen bemerkenswerten Leipziger Aufenthalt zu beschreiben und zu würdigen, lassen sich dagegen die Leipziger Zeitungen nicht entgehen.

Das bedeutendste Antikriegsdrama

Ernst Toller unterbricht nämlich seine Reise nach Berlin in Leipzig und nimmt Quartier im Volkshaus, um sich an der viertägigen Arbeiterkulturwoche und dem Gewerkschaftsfest zu beteiligen. Die Kulturwoche beginnt am Sonntag, dem 3. August, mit seinem Stück „Die Wandlung. Das Ringen eines Menschen“ im Alten Theater (wiederholt am Montag und Dienstag)!

„Das bedeutendste Antikriegsdrama seit 1918 wird in Leipzig zum ersten Mal gezeigt“, so eine Anzeige. „Das Spiel ist auf den Kampf gegen den imperialistischen Krieg gestimmt. Zwei große Staaten, Seenmächte, führen Krieg, weil ihr kolonialer Expansionstrieb aufeinander stößt. Bis die Sinnlosigkeit des Mordens sich offenbart und ein Friedensfest die Völker vereint“, so eine kurze Inhaltsangabe der LVZ. Am 4. August steht auf der Feuilleton-Seite der LVZ ein ausführlicher, durchaus lesenswerter Bericht über die Aufführung der „Wandlung“.

Gleichzeitig, zum Gewerkschaftsfest, wird das Wasserfestspiel „Erwachen“ nach Motiven von Ernst Toller aufgeführt. Das will mit seiner Hilfe vorbereitet, vorher erprobt sein. Es sind aber nicht die ersten aufgeführten Werke von Ernst Toller in Leipzig.

Am 19. September 1923, einem Mittwoch, wird das Ernst-Toller-Drama „Der deutsche Hinkemann“ mit der Ankündigung: „Damit gelangt endlich der größte lebende Dramatiker der Arbeiterschaft und der erfolgreichste Autor der Nachkriegsgeneration an eine Leipziger Bühne“ für das Arbeiter-Bildungs-Institut (Büro: Braustraße 17) uraufgeführt.

Ernst Toller, um 1923 (Aus: Wikimedia Commons, gemeinfrei).
Ernst Toller, um 1923 (Aus: Wikimedia Commons, gemeinfrei).

Alwin Kronacher, Schauspieldirektor am Alten Theater in Leipzig von 1921 bis 1929, der vergeblich für Ernst Toller um Urlaub gebeten hatte, „mußte den Dank an seiner Stelle entgegen nehmen und erwidern. Dem Regisseur Kronacher gebührt ein gutes Teil des Beifalls; er hatte die Innerlichkeit des Dramas vorzüglich herausgearbeitet“, heißt es in der LVZ vom 20. September 1923.

Und am selben Tag begrüßt Egbert Delphy in den Leipziger Neuesten Nachrichten (LNN) das Stück: „Endlich hat auch das Leipziger Stadttheater sich an ein Werk des 29-jährigen Revolutionärs herangewagt, der seinen kurzen glühenden Volksbefreier-Traum in bayerischer Festungshaft büßt …“, und einen Tag später in seiner ausführlichen Besprechung: „Der Eindruck war groß. Es gab ungezählte Hervorrufe, ja Blumen für die Darsteller. Dem Arbeiter-Bildungs-Institut, dessen Initiative, wie ich höre, diese Aufführung zu danken ist, sind wir verpflichtet für den Abend. Wir wissen nun, daß Ernst Toller, der Bühnendichter, eine Hoffnung auch für uns ist!“

Nazi-Störaktion in Dresden

In Dresden dagegen, so ist aus der Neuen Leipziger Zeitung zwei Tage nach dem Ereignis-Tag 17.01.1924 zu erfahren, gibt es einen „arrangierten Skandal, den faschistische Radaubrüder bei der Erstaufführung von Ernst Tollers ‚Hinkemann‘ im Dresdner Staatstheater veranstaltet haben … Mehrere Platzreihen waren von Geheimorganisationen aufgekauft worden.

Auf den Plätzen saßen junge Leute, denen man es ansah, daß sie zum ersten Male in ihrem Leben im Theater waren und wohl zum ersten Mal ein literarisches Werk gelesen hatten. Das Buch war in Dresden schon drei Tage vorher ausverkauft. Man hatte es an die jungen Leute als Regieexemplar, mit Randbemerkungen und mit Stichworten versehen, verteilt.

Es muß gesagt werden, daß die Regie im Zuschauerraum vorzüglich klappte. Die jungen Leute sangen, brüllten, pfiffen, wurden verprügelt, verprügelten einander, Polizei drang in den Zuschauerraum ein – es war ein beispielloses Schauspiel. Bei jeder Stelle, selbst bei den harmlosesten, wurde gepfiffen und gebrüllt. Einen Wutausbruch des faschistischen Mobs entfesselte besonders die Stelle im zweiten Akt in der Schenke, da der betrunkene Verführer von Hinkemanns Frau diesem im Rausch alles gesteht und noch hinzufügt: ‚er werde sie noch auf den Strich schicken‘. Von da ab war von einer regelmäßigen Fortführung der Vorstellung keine Rede mehr.

Das Theater wurde verdunkelt und wieder erhellt, Polizei drang wieder in den Zuschauerraum und entfernte sich wieder, ohrenbetäubendes Gebrüll, Gepfiff und Blasen auf Trompeten erfüllte den Raum. Man sang ‚Deutschland, Deutschland über alles‘, ‚Die Wacht am Rhein‘ … In diesem Tumult versuchte der Spielleiter Paul Wieke Ruhe zu schaffen. Es gelang ihm nicht. Er wurde aus dem Publikum mit den wüstesten Schimpfworten belegt. Die Versuche besonnener Elemente, auf die jungen Leute einzuwirken, wurden mit Faustschlägen und den gemeinsten Schimpfworten beantwortet.

Der Darsteller der Hauptrolle, Schauspieler Bruno Decarli, trat vor die Szene und sprach bittend mit aufgehobenen Händen: ‚Welche Beweggründe auch Ihr Handeln veranlassen möchte, ich bitte Sie, haben Sie Achtung vor der Arbeit der Künstler!‘ Es half nichts. Die bezahlte Horde von Hakenkreuzlern sang und brüllte weiter.

Von einer ehrlichen Entrüstung kann um so weniger die Rede sein, als die Regie ganz ausgezeichnet klappte und auf das Zeichen des Arrangeurs sofort der Sturm von Beschimpfungen losbrach. Es war eine Kraftprobe des geistigen Faschismus in Dresden. Man machte ein Theaterstück, das in anderen Städten anstandslos, allerdings ohne besonders großen Erfolg gespielt worden war, zu einer politischen Angelegenheit.

Die Polizei nahm eine Reihe von Verhaftungen vor. Die Intendanz der Staatstheater war schon vormittags von dem Plane der Hakenkreuzler, die Vorstellung zu stören, in Kenntnis gesetzt worden. Sie erklärte jedoch, gegen derartige Dinge machtlos zu sein. Sie hatte auch keine besonderen Vorkehrungen getroffen. Erst während des Spieles war eine Anzahl von Polizisten in das Theater gerufen worden.

Nach dem Schluß des Theaters sah man die umliegenden Wein- und Bierrestaurants von betrunkenen faschistischen Jünglingen überfüllt, die noch immer Lieder sangen, Passanten belästigten und teilweise von der Polizei verhaftet wurden.“

Ernst Toller schon wieder verhaftet

Dann der 31. Juli 1924:

Kurz vor 7 Uhr früh wird der 29-jährige Ernst Toller von zwei Kriminalkommissaren der Fahndungsabteilung der Leipziger Polizei als Gefangener durch die Zeitzer Straße vom Volkshaus zur Polizei geführt. Der Grund: In Leipzig wurde Toller immer noch per Steckbrief gesucht und für seine Ergreifung war eine Prämie von 10.000 Mark ausgesetzt.

Toller wies die Beamten vergeblich darauf hin, dass er doch gerade seine Strafe verbüßt habe. Es stellte sich heraus, dass die Polizeibehörden über die Erledigung des Falles einfach nicht informiert worden waren. Der Polizeipräsident hat „diesen Narrenstreich der Übereifrigen natürlich sofort rückgängig gemacht. Toller kann also heute Abend zur Probe des Massenfestspiels im Lunapark sein“, heißt es in der LVZ am 31. Juli 1924. Auch das Tageblatt meldet sich zu diesem Vorfall einen Tag später, beide Blätter mehr oder minder bissig und schadenfroh.

Der Leipziger Maler und Grafiker Erich Gruner notierte am 26. 12. 1924 in sein Tagebuch: „Nachmittags im Neuen Theater zur Vortragsstunde von Ernst Toller, dessen Werke mich z. Z. sehr beschäftigen und anregen.“

Ernst Toller liest aus eigenen Werken, das Theater ist „bis auf den letzten Platz gefüllt“. Er liest Szenen aus „Masse Mensch“ und den „Maschinenstürmern“ („Die Maschinenstürmer“ werden am 13. Oktober 1930 im Leipziger Alten Theater gezeigt), Lyrik aus dem vorbereiteten Band „Vormorgen“, umgestaltete Verse aus den „Gedichten der Gefangenen“ und Passagen aus dem „Schwalbenbuch.“

„Tollers Gesamtschaffen hat seine Wertung längst gefunden. Der Dichter Toller ist längst eine künstlerische, keine politische Angelegenheit mehr. Dies zu erweisen, dazu trug die schlichte Zurückhaltung seines hiesigen Auftretens aufs neue wesentlich bei“, bemerkt Gustav Herrmann in den LNN zwei Tage nach der Tagebuch-Notiz.

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