Die Arbeiterbewegung hat Grund zur Freude. Die Maifeiern sind nun schon mehrere Jahre keine gefรคhrliche Sache mehr. Die rote Bewegung darf auf der StraรŸe zum 1. Mai demonstrieren und wird sogar vom Staat geschรผtzt. Doch groรŸ ist die Not und ein Ausweg nicht in Sicht. Der Dollarpreis steigt, der Papierpreis steigt, der Zeitungspreis steigt und vor allem kinderreiche Familien mรผssen Hunger leiden, denn die Erwerbslosenfรผrsorge gibt es nur fรผr bis zu vier Kinder. Einige wissen sich nur noch illegal Hilfe zu holen.

Das Parteiorgan der SPD nimmt den 1. Mai zum Anlass, auf die Lage der Internationale im Jahr 1923 zu schauen. Der Reichstagsabgeordnete Artur Crispien gibt einen Abriss der Geschichte der Internationale. So heiรŸt es unter anderem: โ€žBei ihrem ersten bedeutungsvollen ZusammenstoรŸ mit dem kapitalistischen Imperialismus โ€“ 1914 โ€“ erwies sich die Internationale als der Situation nicht gewachsen. Organisatorisch, taktisch nicht gewachsen. Ihre grundsรคtzlichen Ideen gingen auch diesmal โ€“ wie die des Bundes der Kommunisten und die der Internationalen Arbeiterassoziation โ€“ nicht zugrunde.โ€œ

Zuvor hieรŸ es รผber die Organisation vor knapp neun Jahren: โ€žAllen Stรผrmen der Zeiten trotzend, lebt und setzt sich immer stรคrker durch die Idee des internationalen Sozialismus. Das lehrt auch die Geschichte der sozialistischen Arbeiterinternationale.โ€œ In zehn Jahren wird die Entwicklung der Internationale erneut auf eine Probe gestellt.

Die entsprechende Zeitungsausgabe ist voll mit theoretischen Auseinandersetzungen mit der Lage der Arbeiter und Arbeiterinnen. Das Bild der Arbeiterin wird explizit ausgeformt, der Acht-Stunden-Tag als wichtige Errungenschaft bekrรคftigt. Es geht auch um einen proletarischen Pazifismus. Das Blatt ist voll mit Abhandlungen, die auch gut in ein sozialistisches Handbuch gekonnt hรคtten.

Winterhilfe-Speisung im Gemeindesaal der Petrikirche, um 1923. Quelle Stadtarchiv Leipzig
Winterhilfe-Speisung im Gemeindesaal der Petrikirche, um 1923. Quelle Stadtarchiv Leipzig

Aber: Hatte sich die LVZ im April noch hรถhnisch รผber die Preiserhรถhungen der anderen Zeitungen geรคuรŸert, so muss sie nun im Mai ebenfalls eine Preiserhรถhung verkรผnden. Der Bezugspreis liegt nun bei 3.800 Mark. โ€žDer Verlag der Leipziger Volkszeitung hat den neuen Preis in sehr bescheidenen Grenzen gehalten. Wรคhrend bereits im Monat April Blรคtter, die lange nicht den Umfang und den reichhaltigen Inhalt der Leipziger Volkszeitung haben, 5.000 Mark kosteten โ€ฆโ€œ Ein Kilo Zeitungspapier kostet im Mai 1.550 Mark.

Mit dem Verlauf der Maifeier war man aufseiten der Sozialdemokraten zufrieden. โ€žEs ist noch nicht lange her, als gegen die Maifeier alle Machtmittel des alten Klassenstaates, Polizei, Militรคr, Sรคbel, Gewehre und Kanonen, aufgeboten wurden. Die StraรŸen durften zu der Kundgebung nicht benutzt werden. Jetzt ist der 1. Mai in Sachsen sowie in einer Reihe andrer deutschen Freistaaten allgemeiner, gesetzlicher Feiertag, den aufgrund seiner politischen Macht das sozialistische Proletariat eingesetzt hat. Alle Hรคnde mรผssen feiern, alle Rรคder mรผssen stillstehen, soweit nicht dringend gesellschaftlich notwendige Bedรผrfnisse zu befriedigen sind.โ€œ

Cover Leipziger Zeitung Nr. 122, Vร– 08.03.2024. Foto: LZ
Cover Leipziger Zeitung Nr. 122, Vร– 08.03.2024. Foto: LZ

Die Freude ist zu greifen, nach Jahrzehnten der versuchten politischen Marginalisierung darf die Sozialdemokratie nun auch รถffentlich sie selbst sein, sich zeigen und agitieren. โ€žUnd die StraรŸe, die einst so behรผtet wurde, sie ist die Stรคtte, die der Maifeierkundgebung dient, und keine Staatsgewalt verbietet das. Im Gegenteil! Sie dient dazu, um die Feier zu schรผtzen, um ihr freie Bahn zu verschaffen.โ€œ

Fรผr รคltere Genossen noch immer eine unvorstellbare Sache. Bismarcks Sozialistengesetz hatte versucht, die Sozialdemokratie zu demontieren. Dennoch stellten โ€ždie Rotenโ€œ seit Anfang des Jahrhunderts die grรถรŸte Reichstagsfraktion und haben seit den Oktobertagen 1918 auch endlich politische Verantwortung รผbernehmen dรผrfen. Allen reaktionรคren Querschรผssen zum Trotz, Stichwort DolchstoรŸlegende, gerade in der Anfangszeit der Weimarer Republik ist die SPD die Partei in der ersten deutschen Demokratie.

Die Massenkundgebung auf dem Augustusplatz war der Endpunkte zahlreicher Mรคrsche aus den verschiedenen Himmelsrichtungen. Was dort genau passierte, liest sich wie folgt.

โ€žEin Trompetensignal gab das Zeichen zum Beginn der Feier. Von der Freitreppe des Museums, auf dem Arbeiterchรถre Platz genommen hatten, ertรถnte Massengesang. Das Lied Empor zum Licht! Brauste รผber den weiten Platz und begeisterte die Massen. Nach einem zweiten Liede ergriffen die vier Festredner das Wort zu einer kurzen Ansprache [โ€ฆ]. Mit einem Hoch wurden die Reden beendet. Hierauf sangen die Kinderchรถre, die sich um den Mendebrunnen gruppiert hatten, das Lied Brรผder, zur Sonne, zur Freiheit, Brรผder, zum Licht empor! Die Gemischten Chรถre beschlossen die Feier auf dem Augustusplatz mit Gesang. Dann formierten sich die Festteilnehmer zu einem unรผbersehbaren Zuge nach dem Volkshause. Am Neuen Rathause zogen die Kommunisten vorbei. Sie kamen vom Reichsgericht. Es war ein staatlicher Aufmarsch.โ€œ

Dieser endete mit der Weihe des wรคhrend des Kapp-Putsches 1920 zerstรถrten und wieder aufgebauten Volkshauses. โ€žUnd wenn gewisse reaktionรคre Kreise glauben, diese Arbeiterschaft รผberrumpeln und niedertreten zu kรถnnen, so haben sie gestern einen Anschauungsunterricht erhalten, der sicherlich seine Wirkung nicht verfehlt hat.โ€œ

Fleischerplatz mit Altem Theater um 1922. Quelle: Stadtarchiv
Fleischerplatz mit Altem Theater um 1922. Quelle: Stadtarchiv

Auch Anfang Mai sind die Polizeinachrichten von Diebstahl geprรคgt. Das Juweliergeschรคft Gรผndel in der PetersstraรŸe wurde durch einen Wanddurchbruch von den Dieben betreten, die 48 Uhren erbeuteten. In einem Warenhaus lud der Wรคchter seine Frau, seinen Schwager und dessen Frau zur kleinen Einkaufstour ein. Sie nahmen bei mehreren nรคchtlichen Besuchen Waren im Wert von insgesamt 4 Millionen Mark mit โ€“ und stehen nun vor Gericht. Und ein 18-jรคhriger Buchbinder stahl einer Untermieterin seiner Adoptiveltern Gegenstรคnde im Wert von 1.000.000 Mark aus deren Bodenkammer.

โ€žDa der Spitzbube den Erlรถs verbraucht hat, haben nun auch die Kรคufer nicht geringen Schadenโ€œ, heiรŸt es in den Polizeinachrichten. Und zudem mรถchte man meinen, dass aufgrund des geringeren Verkehrs, die Zahl und Schwere der Verkehrsunfรคlle deutlich geringer gewesen sein muss als heute. Dennoch gibt es immer Berichte von schweren Unfรคllen. So hat ein Fahrradfahrer am Bahnhof eine Frau beim รœberschreiten der FahrstraรŸe erwischt und ist โ€žeiligst davongefahren, ohne sich um die Verunglรผckte zu kรผmmern.โ€œ Sie leidet nun an einem Schรคdelbruch.

Am 29. Mai kostet der Dollar schon 62100 Mark und damit fast dreimal so viel wie sechs Wochen zuvor. Der vorgebliche Wucher der Hรคndler bleibt ebenfalls ein Thema in der sozialistischen ร–ffentlichkeit. So listet die Zeitung genau auf, wie sich die Preise in den letzten Tagen entwickelt haben. Demnach kostete ein Zentner Weizen am 26. Mai noch  97โ€“98.000 Mark, am 28. Mai 105.000 bis 106.000 Mark.

Gleichzeitig prangert die LVZ an, dass die Erwerbslosenfรผrsorge fรผr arbeitslose Familien nur fรผr vier Kinder bezahlt wird, โ€ždie Abtreibung der Leibesfruchtโ€œ allerdings bestraft wird. โ€žDie Arbeiterfrau soll Kinder gebรคren, damit dem Kapitalismus viele Arbeitskrรคfte beschwert werden. Es gibt zahlreiche kinderreiche Familien. Wehe, wenn sie in Not geraten, erwerbslos werdenโ€œ.

โ€žZeitreise 1923: Hinaus zum 1. Mai, aber nicht zu viele Kinder kriegenโ€œ erschien erstmals im am 08.03.2024 fertiggestellten ePaper LZ 122 der LEIPZIGER ZEITUNG.

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