Mit dicken Biografien wird in diesem Jahr das Franz-Kafka-Jahr gefeiert. Denn vor 100 Jahren ist der Autor gestorben. Dass Leipzig auf die Liste der Orte gehรถrt, an denen irgendetwas zur Feier des lรคngst legendรคren Autors passieren sollte, das weiร jeder, der sich auch nur ein bisschen mit der Verรถffentlichungsgeschichte von Kafkas Werken beschรคftigt hat. Es gibt sogar eine Haustafel, die seinen Namen anfรผhrt, nรคmlich am Haus Kreuzstraรe 3b. Hier saร einst der Kurt-Wolff-Verlag. Nur Kafka war nicht hier.
Die Tafel erinnert auch nicht an seine Prรคsenz, sondern an die legendรคre Reihe โDer Jรผngste Tagโ aus dem Kurt-Wolff-Verlag, die ab 1913 erschien, in der mehrere der bekanntesten Texte von Franz Kafka erschienen โ gleich 1913 als Nr. 3 โDer Heizerโ, 1915 dann โDie Verwandlungโ, 1915 โDas Urteilโ.
Aber dass Kafkas Texte in Leipzig erscheinen wรผrden, das hatte 1912 noch ein ganz anderer Mann ausgehandelt: Ernst Rowohlt. Denn vor dem Kurt-Wolff-Verlag gab es den ersten Rowohlt Verlag, den der 25-jรคhrige Ernst Rowohlt in der Kรถnigstraรe 10 gegrรผndet hatte.
Da wohnte โder brave, der kluge, der tรผchtige Rowohltโ (Kafka) auch, sodass man zumindest topografisch weiร, wo man hinspazieren muss, wenn man Kafkas Tagebucheintrag folgt: โSpaziergang. Max zu Rowohlt.โ Das war im Juni 1912. Max ist Kafkas Freund und Mentor Max Brod, der ihn bei seinen frรผhen Verรถffentlichungen unterstรผtzt hat und ihn hier von Prag nach Leipzig begleitete.
Begegnung mit Rowohlt
Am 29. Juni treffen beide nicht nur den jungen Verleger Ernst Rowohlt, sondern auch seine engen Mitarbeiter Walter Hasenclever und Kurt Pinthus. Bei der Gelegenheit besichtigt Kafka auch das Grafische Viertel, damals tatsรคchlich noch das Herz des deutschen Buchhandels: โBuchgewerbemuseum. Kann mich vor den vielen Bรผchern nicht halten. Die altertรผmlichen Straรen dieses Verlagsviertels, trotz gerader Straรen und neuerer, allerdings schmuckloser Hรคuser.โ

Vielleicht die entscheidenden Absprachen traf man dann in โWilhelms Weinstubenโ. Die lagen in der Innenstadt, in der Hainstraรe 17/19, im โJรคgerhofโ. Sie sind genauso verschwunden wie Rowohlts Verlagssitz in der Kรถnigstraรe 10. Kriegsverlust. Fantasie hilft da nicht mehr, wenn man heute an gleicher Stelle in der Hainstraรe steht.
Also doch wieder Kafka zitieren: โโWilhelms Weinstubeโ, dรคmmeriges Lokal in einem Hof. Rowohlt. Jung, rotwangig, stillstehender Schweiร zwischen Nase und Wange, erst von den Hรผften an beweglich.โ
Was ein Dichter so alles beobachtet. โEigentรผmliches tรคgliches Mittagessen in der Weinstube. Groรe, breite Weinbecher mit Zitronenscheiben. Pinthus, Korrespondent des โBerliner Tageblattsโ, dick, flacheres Gesicht.โ Auch Walter Hasenclever, selbst einer der bekanntesten expressionistische Dichter in dieser Zeit, ist mit dabei.
Aber die Zusage, dass Kafka bei Rowohlt erscheinen wรผrde, gab es erst abends im โCafรฉ Francaisโ am Augustusplatz: โCafรฉ Francais, Rowohlt will ziemlich ernsthaft ein Buch von mir.โ
Noch am selben Tag reisen Brod und Kafka wieder ab. Zwei Tage haben sie Leipzig gewidmet. Mit Erfolg. Am 10. Juli bestรคtigt Rowohlt seine Absichten.
Und dann verschwindet Rowohlt aus der Geschichte. Denn am 1. November 1912 schon steigt Ernst Rowohlt โwegen persรถnlicher Differenzenโ mit seinem stillen Teilhaber Kurt Wolff aus seinem eigenen Verlag aus. Aus dem ersten Rowohlt Verlag wird der Kurt-Wolff-Verlag, den Kurt Wolff dann auch gleich mal in die reprรคsentative Villa in der Kreuzstraรe 3b verlegt.
Kafkas Unzufriedenheit
Wo er dann das Versprechen an Kafka einlรถst und seine Texte in der von ihm gegrรผndeten Reihe โDer Jรผngste Tagโ verรถffentlicht. Leipzig ist also eine Stadt mit lauter nicht mehr existierenden Kafka-Orten: angefangen mit Rowohlts Verlagssitz Kรถnigstraรe 10 (heute Goldschmidtstraรe), รผber das โCafรฉ Francaisโ bis zu โWilhelms Weinstubenโ.
Den Bahnhof nicht zu vergessen, der bei Kafkas Ankunft eine riesige Baustelle war: โDer halbe neue Bahnhof. Schรถne Ruine des alten.โ
Und abgestiegen waren Kafka und Brod in โOpels Hotelโ. Gleich am Bahnhof: Blรผcherstraรe 9. Auch das komplett verschwunden. Heute steht da der Wohnblock der LWB in der Kurt-Schumacher-Straรe.
Und nicht einmal Auerbachs Keller steht zur Verfรผgung, denn der war 1912, als Kafka nach Leipzig kam, Baustelle. Hier entstand bis 1914 die neue Mรคdlerpassage: โNachtarbeit auf einem Bauplatz, wahrscheinlich auf der Stelle von Auerbachs Keller. Nicht zu beseitigende Unzufriedenheit mit Leipzig.โ
Hoppla. Das saร.
So richtig gefallen hat ihm die Stadt also nicht wirklich. Jedenfalls dem Vergleich mit seinem Prag nicht standgehalten. Vielleicht hat er sich auch nur schrecklich fremd gefรผhlt. Wie so oft in seinem Leben. Oder er war einfach vom Lรคrm und Gedrรคnge in der engen Innenstadt abgeschreckt. Das war nicht seins.
Bleibt also tatsรคchlich nur die Tafel an der Villa in der Kreuzstraรe, Ecke Inselstraรe. Und die legendรคre Reihe โDer Jรผngste Tagโ, die ab 1913 alles sammelte, was damals in der deutschen Literatur tatsรคchlich neu und unerhรถrt war.
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