Er soll Anfang 1933 den Berliner Reichstag angezündet und dem sich etablierenden NS-Regime den willkommenen Vorwand serviert haben, das Land mit Terror zu überziehen. Seine wirkliche Beteiligung am Flammeninferno ist bis heute umstritten. Genau 90 Jahre nach seiner Exekution in Leipzig wurde am Mittwoch eine neue Grab- und Gedenkanlage für Marinus van der Lubbe auf dem Südfriedhof eingeweiht.
Schaurige Szenen spielten sich vor fast exakt 90 Jahren im Hof des Leipziger Untersuchungsgefängnisses ab, als ein junger Niederländer am 10. Januar 1934, drei Tage vor seinem 25. Geburtstag, zum Schafott gebracht und durch den Scharfrichter Alwin Engelhardt exekutiert wurde. Sein Name: Marinus van der Lubbe. Nach der Enthauptung wurde der Leichnam anonym auf dem Leipziger Südfriedhof beerdigt, wo seit Mittwoch, dem 10. Januar 2024, wieder eine Grab- und Gedenkanlage an ihn erinnert.
Kontroverser Kriminalfall der deutschen Geschichte
Hinter dem Maurer und Hilfsarbeiter, der 1909 im niederländischen Leiden zur Welt kam, verbirgt sich eines der umstrittensten Ereignisse deutscher Geschichte. Denn als am Abend des 27. Februar 1933 der Berliner Reichstag in Flammen stand, zögerten die Nationalsozialisten unter dem erst vier Wochen zuvor ernannten Reichskanzler Adolf Hitler keine Sekunde, mit hemmungslosem Terror gegen die angeblich schuldigen Kommunisten vorzugehen.
Da passte es nur zu gut ins Bild, dass Polizeikräfte im Reichstag einen 24-jährigen Niederländer gestellt hatten, der den Brand angeblich im Alleingang gelegt haben soll. Marinus van der Lubbe, schon während seiner Jugend in kommunistischen Zirkeln aktiv, wurde wegen „hochverräterischer Brandstiftung“ vor dem Leipziger Reichsgericht angeklagt, im Dezember 1933 zum Tode verurteilt und dem Henker übergeben.
Die Mitangeklagten Ernst Torgler, Georgi Dimitroff, Blagoi Popow und Wassil Tanew erhielten mangels Beweisen einen Freispruch, wurden jedoch zunächst in ein Konzentrationslager überstellt – euphemistisch „Schutzhaft“ genannt.
Lange hielt sich die These vom Einzeltäter
Den Nationalsozialisten kam der Reichstagsbrand auf dem Weg zur Festigung der Macht und der Demontage der Weimarer Demokratie sehr entgegen. Die „Reichstagsbrandverordnung“ nur einen Tag später gab dem Regime freie Hand für willkürliche Verhaftungen, Folter und Mord, alles mit scheinlegalem Anstrich. Doch gilt es bis heute als unaufgeklärt, ob hinter der Feuersbrunst eine gezielte Inszenierung steckte, die einen Vorwand für den Terror schuf. Lange hielt sich in Publizistik und Forschung die These Marinus van der Lubbes als kommunistischem Einzeltäter.
Doch zuletzt äußerte der Journalist und Buchautor Uwe Soukup erhebliche Zweifel an diesem Narrativ. Anhand von Indizien, Quellen und Zeugenaussagen argumentierte er, dass ein Feuer in dieser Größenordnung unmöglich ein Einzelner gelegt haben könne. Anderslautende Behauptungen, so seine Kritik, gingen wesentlich auf die Arbeit eines Amateurhistorikers nach dem Krieg zurück, die später durch den SPIEGEL und das Institut für Zeitgeschichte weiter kolportiert und als unumstößliche Wahrheit vergoldet worden sei.
Solo-Brandstifter oder Statist einer NS-Inszenierung?
Dabei fiel schon zeitgenössischen Beobachtern auf, dass der nach einem früheren Unfall mit Kalk teils erblindete van der Lubbe während des Prozesses in Leipzig apathisch und nicht ansprechbar schien. Das nährte Spekulationen, der unbedarft wirkende Arbeiter könne gezielt unter Drogen gesetzt worden sein. Vor einem Jahr ließ die Leipziger Paul-Benndorf-Gesellschaft seine sterblichen Überreste auf dem Südfriedhof exhumieren.
Eine gerichtsmedizinische Untersuchung der Proben durch Dr. Carsten Babian bestätigte anhand eines DNA-Abgleichs mit einem Nachfahren die Identität des Leichnams, erbrachte aber keinen Nachweis für verabreichte Substanzen. Die Kontroverse, ob van der Lubbe womöglich nur Statist in einem perfiden Schauspiel der Nazis war, wird dennoch weitergehen. So verwies Buchautor Uwe Soukup auf Beobachterberichte, wonach sich der junge Mann massiv gegen seine unmittelbar anstehende Hinrichtung gewehrt, nach „den anderen“ gefragt und Angehörige der deutschen Regierung beschuldigt habe.
Begriff er in dem Moment, dass man ihn nur benutzt hatte, um sich des lästigen Mitwissers jetzt grausam zu entledigen? Zum Tode verurteilt wurde er übrigens erst auf Grundlage eines eilig geschaffenen Gesetzes, das es zum angeblichen Tatzeitpunkt gar nicht gab – ein Hohn für jeden Rechtsstaat. Der Richterspruch ist seit 2007 formal aufgehoben.
Exhumierung räumte mit einem Gerücht eindeutig auf
Ein anderes Gerücht konnte die Exhumierung van der Lubbes eindeutig entkräften: Entgegen zeitgenössischer Quellen wurde sein Körper nicht in doppelter Tiefe bestattet, um die Ausgrabung zu verhindern. Vielmehr befanden sich die Überreste des jungen Mannes in der regulären Tiefe von zwei Metern.
Dort, auf dem Leipziger Südfriedhof am Rand des Völkerschlachtdenkmals (VIII. Abteilung, 8. Gruppe, Reihe E, Grab 30), nahmen am Mittwoch bei sonniger Eiseskälte geschätzt 140 Menschen an der Einweihung der Grabstätte für Marinus van der Lubbe teil. Bislang gab es zwar seit Anfang 1999 einen Gedenkstein, der aber nicht mit dem realen Ort des Grabes identisch war und erst 2023 mehrere Meter versetzt wurde.
Eine provisorische Informationstafel, die später durch wetterfesten Ersatz abgelöst werden soll, liefert den Besuchern Auskünfte zum historischen Kontext.
Geschichtliche Dimension auf dem Friedhof
Bei der Zeremonie am Mittwoch sprachen Bürgermeister Ulrich Hörning, Alfred E. Otto Paul (Vorsitzender Paul-Benndorf-Gesellschaft) sowie Linke-Stadtrat Volker Külow, der ebenfalls zur Paul-Benndorf-Gesellschaft gehört und sich als Historiker viel mit dem strittigen Fall van der Lubbe auseinandergesetzt hat. Zudem nahmen auch Vertreter der Familie (unter anderem ein angereister Großneffe van der Lubbes), vom „Kunstkollektiv Marinus“ sowie Konzeptkünstler Ronnie Sluik an der Einweihung des Gedenksteins teil.
Auf diesem sind Verse aus van der Lubbes Gedicht „Schönheit, Schönheit“ zu lesen. Musikalisch umrahmt wurde die Feierlichkeit durch das Streichquartett „musica viva.“
„Unsere Friedhöfe haben eine besondere kulturhistorische Bedeutung mit geschichtlichen Bezügen, die bis heute wirksam sind, dies zeigt sich am Beispiel van der Lubbe sehr eindrücklich. Unsere Friedhöfe sind daher ein wesentlicher Teil unserer Erinnerungskultur“, so Rüdiger Dittmar, Leiter des Amtes für Stadtgrün und Gewässer, auf dem anschließenden Gedenkkolloquium in der Hauptkapelle des Südfriedhofs.
Hier wurde unter anderem noch einmal an van der Lubbes kurzes Leben erinnert, die Kontroverse rund um den Reichstagsbrand präsentiert und das forensische Gutachten zur Leichenuntersuchung vorgestellt.
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Es gibt 4 Kommentare
In Diktaturen ist es völlig egal, ob jemand schuldig ist, man braucht nur Leute, die man bestrafen kann.
Das jemand mit 15%/20% Sehschwäche, der unter mysteriösen Umstand kurz vor der Tat nach Deutschland kam (nie als Kommunist Fuß fasste) und Kontakte zu Spitzeln hatte, das durchgezogen haben soll ist abstrus. Simuliert man selbst mit 15%/20% – dann merkt man, dass man gar nichts schnell oder großräumlich koordinieren kann. Die nachfolgenden Ereignisse, bis hin zur kompletten Machtübernahme nach dem Putsch sprechen für sich und erscheinen geplant. Warum z.B. H.G. Gewehr lügen sollte ist unklar, oder warum Schneider nicht publikationsreif ist. Erkenntnisse kommen nur mit neuen Dokumenten, die es kaum noch gibt. Dafür hatte der Spiegel mal wieder ein Zerrbild der Realität entworfen, und in gewohnter Märchenmanier Narrative gepflegt – hält Journalisten bis heute nicht davon ab regelmäßig aus dem Organ zu zitieren. Auch Mommsen hat sich schwer verhoben. Selbst der Tagebucheintrag vom PR Doc muß keine Entkräftung der bewußten / unbewußten Beteilung darstellen, es war erst 2/33, nicht 38.
Vielleicht sollte man auch erwähnen, dass van der Lubbe im DDR-Geschichtsunterricht vorkam, im westdeutschen Unterricht jedoch nicht (klar, es waren die Kommunisten, hat Hitler ja gesagt).
Mir wurde gelehrt, dass die Einzeltäterversion aus mehreren physikalischen Gründen unhaltbar ist.
Mir wurde die Vermutung gelehrt, dass Marius van der Lubbe in eine Falle gelockt wurde, und der Reichstag auch ohne ihn gebrannt hätte, als Täter war er willkommen.
Ronnie Sluik widerspricht mir. Ronnie ist nicht “nur” Künstler, sondern auch Historiker.
Seinen Widerspruch muss man ernst nehmen, aber letztlich glaubt auch er nur etwas anderes, als was ich glaube.
Ich habe Ronnie Sluik – dem Schöpfer der drei Steine, der erste in Leiden, der zweite in Berlin und der dritte bei uns in Leipzig – in stundenlangen Gesprächen kennenlernen dürfen und von ihm viel über “Marinus”, wie er ihn ausschließlich nennt, erfahren.
Der Kosmopolit Ronnie Sluik ist absolut überzeugt, dass van der Lubbe Einzeltäter war, meint aber gleichzeitig, dass die “Schuldfrage” völlig irrelevant ist.
Bei “Einzeltäter” bin ich anderer Meinung, bei “irrelevante Schuldfrage” stimme ich Ronnie zu.