Man findet ihn nur schwer. Als hรคtte es ihn gar nicht gegeben. Obwohl er die Station Nr. 1 auf der Leipziger Notenspur verdient hรคtte, denn er ist der Leipziger Komponist, dessen Musik hรคufiger gespielt wird als die von Bach und Wagner. Wer es nicht glaubt, lausche den Kindern. Und er lebte und diente รผber 50 Jahre in Leipzig. Wer ihn vor 100 Jahren hรคtte besuchen wollen, hรคtte vor einem Haus an der Ecke Petersstraรe/Preuรergรครchen gestanden.
Da, wo das Karstadt war und heute das hypermoderne Neo. Nichts deutet darauf hin, dass hier einst Leipzigs โerfolgreichsterโ Komponist lebte. Erfolgreich in Anfรผhrungszeichen. Denn sein Erfolg machte ihn nicht reich. Nur beliebt. Insbesondere bei Kindern. Und seine Lieder werden bis heute gesungen. Auch heute.
Das wohl berรผhmteste heiรt: โO Tannenbaumโ.
Obwohl Kinder streiten wรผrden, ob es gerade dieses ist. Andere wรผrden โAlle Jahre wiederโ nennen, โFuchs, du hast die Gans gestohlenโ oder โAlle meine Entchenโ oder โEs klappert die Mรผhle am rauschenden Bachโ.
Man singt die Lieder, lernt sie als Kind. Aber wer merkt sich den Namen des Komponisten, der meist ganz klein unterm Titel, steht? Ganz bescheiden.
โBilligโ Ecke Preuรergรครchen
Denn dieser Ernst Gebhard Salomon Anschรผtz war ein bescheidener Mann. Er lebte zwar in einem Hotel โ aber nur, weil das so sparsam war damals im โHotel de Baviereโ an der Ecke Preuรergรครchen. Vier Stockwerke hoch, 20 Fenster, zehn auf die Petersstraรe hinaus, zehn auf das Preuรergรครchen, wie Friedrich Gottlob Leonhardi in seiner Stadtbeschreibung vermerkt.
Eines der berรผhmtesten Gasthรคuser der Stadt damals, โwo Fremde von jedem Range jederzeit eine auserlesene Tischgesellschaft, die bequemsten Wohnungen, verbunden mit der besten und billigsten Bedienung finden.โ
Das โbilligโ hatte vor 200 Jahren noch einen anderen Klang. Aber sparsam leben musste dieser Anschรผtz, der 1798 aus dem thรผringischen Goldlauter nach Leipzig kam, um hier Theologie zu studieren. 1802 promovierte er. Da wรคren ihm hohe รmter eigentlich zugรคnglich gewesen. Doch er war auch noch Freimaurer. Damit waren ihm hohe Schul- und Kirchenรคmter verbaut.
Er rebellierte nicht, begann nicht zu prozessieren. Er kannte seine honorigen Zeitgenossen. Und wรคhlte ein Leben in Bescheidenheit, wurde erst Hilfslehrer an der von Johann Wendler gestifteten Armenschule und 1806 dann an der 1. Leipziger Bรผrgerschule, die damals auf der Moritzbastei stand. Und er verdingte sich ab 1819 als Organist an der Neukirche auf dem Matthรคikirchhof. Dafรผr bekam er in beiden Fรคllen kein groรes Gehalt. Weshalb er ein Leben lang arm blieb โ zumindest, was seinen Geldbeutel betraf.
Auch wenn er auch noch Privatunterricht als Musiklehrer gab. Denn er beherrschte auch noch eine Menge Instrumente, wie Manfred Altner in seiner kleinen Anschรผtz-Biografie schreibt: โA. pflegte Gesang, Klavier- und Orgelspiel, spรคter auch Violine, Viola, Violoncello und Klarinette, studierte einige Jahre Generalbass bei dem sรคchsischen Kirchenkomponisten Johann Gottfried Schicht und nahm groรen Anteil am musikalischen Leben Leipzigs.โ
Liederschรคtze
Aber im Herzen war er reich. โEr sammelte Psalmodien und Liederbรผcher, musste allerdings viele davon wieder verkaufen, wenn seine Schulden zu groร geworden warenโ, schreibt Altner. Der auch berichtet, wie Anschรผtz Hab und Gut verlor: โIm Februar 1849 brannte seine Wohnung aus, ein Freund konnte ihm die in losen Blรคttern gesammelten Gedichte retten, sodass A. diese 1851 als โVermischte Gedichteโ im Verlag von Robert Friese in Leipzig verรถffentlichen konnte. Ostern 1849 wurde er pensioniert.โ
Diese Wohnung war dann nicht mehr im โHotel de Baviรจreโ, sondern An der Wasserkunst 4. Das war dort, wo heute die Harkortstraรe am Pleiรemรผhlgraben entlang fรผhrt. Zu Anschรผtz`Zeit standen noch die beiden Wasserkรผnste, aus denen die Stadt ihr Wasser bekam. Das mit dem โAusbrennenโ der Wohnung ist ein bisschen รผbertrieben, denn auch spรคtere Stadtadressbรผcher weisen den pensionierten Organisten an dieser Anschrift aus.
Aber das โHotel de Baviรจreโ ist viel interessanter. Denn dort entstand jene Liedersammlung, in der auch โO Tannenbaumโ seinen Platz fand. Ein Lied, das zuvor ein โtragisches Liebesliedโ von einem gewissen August Zarnack war. Weshalb in der ersten Textfassung auch jede Menge von Treue die Rede war: โWie treu sind deine Blรคtterโ?
Naja. Meist bis in die ersten Januartage, und dann bringen wir Untreuen den armen Baum zur Sammelstelle, um ihn loszuwerden. Mit der Treue ist das so eine Sache.
Spรคter wurden grรผne Blรคtter draus.
Ein Gesangbuch fรผr die Schulen
Verรถffentlicht hat Anschรผtz das Tannenbaum-Lied (noch mit dem Titel โDer Tannenbaumโ) 1824 in โMusikalisches Schulgesangbuch: nach einer genauen Stufenfolge vom Leichtern zum Schwerern in drei Heftenโ bei Anton Philipp Reclam.
Aber ist es noch die Zarnack-Melodie, nach der wir heute den Tannenbaum ansingen? Wahrscheinlich nicht, vermutet Altner: โDas bekannteste Lied von A. ist โO Tannenbaumโ. Erst er machte es zu einem Weihnachtslied, indem er 1824 eine von dem Berliner Pรคdagogen, Prediger und Volksliedsammler August Zarnack bearbeitete Fassung um die 2. und 3. Strophe erweiterte. Ob auch die Melodie zu diesem Lied von ihm stammt, ist nicht nachgewiesen. Da das Notenblatt hierzu aber von 1824 stammt und sich von der Fassung Zarnacks unterscheidet, ist dies recht wahrscheinlich.โ
Denn Anschรผtz ging es immer um das Singbare. Darum, dass die Kinder die Lieder nicht nur in der Schule, sondern auch zu Hause singen konnten. Ohne viel Aufwand. Einfach mit Freude am Singen. Das war Anschรผtz die grรถรte Freude. Da lebte er lieber ein bescheidenes Leben und verzichtete auf groรe Honorare.
โEr hatte immer wieder Schwierigkeiten, seine Frau und die sieben Kinder zu ernรคhren. Dennoch verzichtete er auf groรe Honorare bei der Verรถffentlichung seiner Bรผcher, um sie fรผr die Kinder in der Schule bezahlbar zu haltenโ, erfรคhrt man auf Wikipedia. Das trifft auch auf sein โMusikalisches Schulgesangbuchโ zu.
Und das Ergebnis ist: Ernst Anschรผtz hat nicht mal einen Platz auf der Leipziger Notenspur. Im Personenregister Leipziger Stadtfรผhrer wird er nicht erwรคhnt. Keine Straรe ist nach ihm benannt. Auch ein Denkmal hat er nicht bekommen. Anders als sein Leipziger Zeitgenosse und Komponistenkollege Carl Friedrich Zรถllner, der mit โDas Wandern ist des Mรผllers Lustโ zu Lebzeiten berรผhmt geworden ist.
Da kรถnnen die Kinder jedes Jahr mit Freude in den Augen deine Lieder singen โ und trotzdem kennt dich keiner. Vielleicht รคndert sich das 2024 ein bisschen, wenn Anschรผtzโ Liedersammlung 200 Jahre alt wird.
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