Es wird März in Krisen-Deutschland. Das Land befindet sich auch den dritten Monat des Jahres weiterhin im Ausnahmezustand. Die Inflation hinterlässt tiefe Spuren. Leipziger Künstler müssen um ihr Auskommen bangen, im Reichstag gibt es Pfui-Rufe und in Leipzig schießt ein Belgier auf einen deutschsprechenden Engländer …
In der Krise befindet sich neben vielen anderen auch das Konzertwesen Leipzigs, ja sogar Deutschlands. Problem: Die Mietkosten für Konzertsäle steigen so stark, dass sie nicht refinanziert werden können. Zwischen 400.000 und 800.000 Mark müssen Künstler allein für die Saalmiete berappen, wenn sie ein Orchesterkonzert anbieten wollen.
„Hat aber z. B. ein Sänger den Ehrgeiz, seine Hörer nicht im ungeheizten Saal sitzen zu lassen und ihnen gar noch einen Textdruck der gelungenen Lieder in die zu geben, so verteuert sich für ihn das Konzert schon wieder um etwa 50.000 Mark.“ Der Autor empfiehlt daher, dass die zahlreichen Vereine sich stärker engagieren, um die Kosten für die Künstler zu verringern. „Es handelt sich also nicht nur um die Konzerte der reinen Konzertvereine, sondern auch um die Veranstaltungen von Geselligkeitsvereinen, Volksbildungsinstituten, Industriewerken und sonstigen geschlossenen Gesellschaften jeder Art“. Volle Zustimmung erhält der Autor, Dr. Abers, vom damaligen Gewandhauskapellmeister Wilhelm Furtwängler. Dieser lässt in einer Zuschrift verlautbaren: „Ein deutscher Künstler ist heute nur noch in seltenen Fällen in der Lage, ein eigenes Konzert zu riskieren.“
Außerdem wird nun gegen die Preistreiberei im Viehhandel protestiert. Die scharfe Überwachung des Viehhandels allein genüge nicht, sagen die Preisprüfungsstelle Leipzig und die Staatsanwaltschaft, die sich bereits am 9. Februar zum Austausch getroffen hatten. „Insbesondere die preisbildenden Vorgänge, die sich in der letzten Zeit auf den sächsischen Vieh- und Schlachthöfen gezeigt haben“ wurden eingehend erörtert. Dem Reichswirtschaftsministerium wurden Vorschläge gemacht, wie die Preistreiberei ein Ende haben kann. Eine Antwort wird im März dringender denn je erwartet.
Die letzte Nachfahrin des Leipziger Bürgermeisters Otto Koch ist Anfang Februar verstorben. Ein Redakteur der LNN nimmt uns mit in ihre Jugend und in die Leipziger Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts und an einen Ort, dessen Geschichte bis dato so leicht nicht zu ergründen ist.
„Zu seinem 25-jährigen Amtsjubiläum erhielt der verdienstvolle Bürgermeister Koch vom Rat der Stadt einen Bauplatz an der nachmaligen Kochstraße geschenkt, auf dem eine schöne Villa inmitten eines prachtvollen, parkähnlichen Gartens entstand. Diese Villa wurde besonders in den siebziger und achtziger Jahren der Schauplatz anregender sowohl als auch anheimelnder Geselligkeit, wobei sich viele bekannte Leipziger Familien sowie namhafte Künstler und Gelehrte ein Stelldichein gaben. Immer war es die Tochter Johanna, die durch die dichterische Gabe, durch Prologe, verbindende Texte, Aufführungen und Tischreden der Gastlichkeit eine eigene, sinnige und poetische Note verlieh.“
Johanna war von früher Jugend an schwer leidend. Was ihr fehlte, wird nicht genau gesagt, womöglich litt sie an Rheumatismus. Sie unterstützte später mit Konzerten im Garten der Villa Organisationen, die eine Finanzspritze brauchten, ließ dafür auch die Thomaner singen. Später zog sie nach Stuttgart, wo sie dann verstarb. Was nun aus dem Haus werden sollte, war zu dem Zeitpunkt unklar. Aber wo befand es sich überhaupt?
Trotz der finanziellen Not der Kultur sind die Leipziger Neuesten Nachrichten regelmäßig voll mit interessanten Angeboten. Im März zur Messezeit ohnehin. „Der erste Weg der Messgäste: Heute Dienstag Großer Messball im Luna-Park im grossen Festsaal. Großes Orchester! Kein Tanzgeld! Zu jeder Tageszeit vorzügliche in- und ausländische Küche.“ Nur sicher keine französische …
Das Weinhaus Mosella in der Reichsstraße 37 wirbt dagegen mit „Ungarischer Zigeuner-Musik, Feine Küche und Erstklassige Weine“. Und während der Messe öffnet das Kaffeehaus Korso bereits 7 Uhr für Kaffee- und Frühstücksgäste. Messbälle gibt es auch noch im Palmengarten oder im Olympia-Tanzpalast in der Wurzner Straße. Zur Leipziger Frühjahrsmesse hat sich für den 7. März sogar Reichspräsident Friedrich Ebert angesagt.
Derweil steigt der Dollarpreis auf 22.222 Mark. Für 100 Mark bekommt man in New York noch sagenhafte 0,15 Cent. Kanzler Cuno klagte die Situation im Ruhrgebiet in einer Rede vor dem Reichstag an, dessen Tribünen „bis auf den letzten Platz“ gefüllt waren. „Sehr übel vermerkt wurde, daß ein Vertreter des Pariser ‚Journal‘ sich ebenfalls auf der Tribüne breitmachte und, wie ein Kontrolleur feststellte, eine anscheinend rechtsgültige Eintrittskarte besaß.“ Das führte aber nicht dazu, dass er bleiben durfte. „Er wurde trotzdem entfernt“, heißt es fast selbstverständlich im Artikel.
Das Stimmungsbild im Reichstag an diesem Tage vermittelte eindrücklich, welche Wut sich in Deutschland gegen Frankreich angestaut hatte.
„Löbe spricht: Ungeheuerliche Freveltaten, Mißhandlungen über Mißhandlungen der Bevölkerung seitens der Franzosen sind die Ursache zur Einberufung dieser Sitzung. Schallende Pfuirufe aus dem ganzen Hause.“ Der 47-jährige Paul Löbe ist Reichstagspräsident, 1949 wird er noch Alterspräsident des ersten Deutschen Bundestags sein. Nach ihm spricht Kanzler Cuno, der sich darüber erregt, dass die Französische Armee ohne Ankündigung am Morgen des 8. März den Rhein überquert hat, um das Hafengelände der Zoll- und Werftanlagen von Mannheim zu besetzen, auch Karlsruhe und dessen Hafen, Eisenbahnwerkstätten und Elektrizitätswerk sind besetzt. „Würde das irgendwo sonst unter zivilisierten Staaten geschehen, so würde die Welt voll der Entrüstung über einen solchen Friedensbruch sein. Da es mit Deutschland geschieht, so hält man es als eine ‚kleine Erweiterung der Ruhraktion‘ keines besonderen Aufhebens wert.“ Hört! Hört!-Rufe begleiten Cunos Rede.
Zur gleichen Zeit gibt es in Leipzig lokal-außenpolitische Verwicklungen, die die Stadt empören. „In angezechtem Zustande“ hat ein Belgier in der Nacht zum 4. März in Begleitung eines Schweizers auf einen Engländer geschossen, der sich auf Deutsch darüber echauffierte, wie diese denn in aller Öffentlichkeit französisch in Deutschland reden könnten.
Daraufhin schoss der Belgier den vorübergegangenen Engländer in die Ferse. Die LNN bemühte sich neben dem Polizeibericht noch weitere Informationen zu den Tätern herauszufinden, was durchaus boulevardesk anmutet. So weiß die Zeitung, wo genau der Belgier und der Schweizer wohnten, wie sie an die Wohnungen gekommen sind und dass die Wirtsleute die Waffe auf dem Schrank bereits bemerkt hatten.
Die Tochter der Wirtsleute versicherte dagegen öffentlich, dass „sie und ihre Mutter sehr franzosenfeindlich seien und es gänzlich ausgeschlossen gewesen wäre, daß die beiden bei Schmidts Unterkunft gefunden hätten, wenn diese gewußt hätten, einen Belgier vor sich zu haben.“ Die Polizei ließ den Täter unter Auflage einer Kaution von 4 Millionen Mark frei. Weil dieser aber nicht zahlte, rückte sie Tage später mit dem Gerichtsvollzieher an und observierte das Haus …
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