Am letzten Donnerstag, dem 19. Oktober, wurde die Ausstellung „Blackbox Heimerziehung“ offiziell eröffnet. Sie beschäftigt sich mit der Heimerziehung in der DDR, unter anderem im Jugendwerkhof Torgau und den sogenannten Durchgangsheimen, und porträtiert Zeitzeug*innen. Dabei setzt sie sich nicht nur mit der vergangenen Geschichte auseinander, sondern zieht die Fäden bis in die Gegenwart.
Sie thematisiert fehlende Rehabilitierung für die ehemaligen Heimkinder und geschlossene Einrichtungen im aktuellen Kinder-/Jugendhilfe- und Psychiatrie-System.
Die Wanderausstellung hat auf dem Nikolaikirchhof Stellung bezogen. Es handelt sich um einen umgebauten Seecontainer, in und vor dem auf Stelen, mit Texten, Bildern und Videos die Geschichte der Heimerziehung in der DDR vorgestellt wird.
Auf der Rückseite des Containers steht provokant der Spruch „Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim“. Man sei sich des problematischen Zynismus dieses Ausspruchs bewusst, betont Projektmitarbeiter und Historiker Dr. Christian Gaubert. Gerade durch die Alltäglichkeit des Ausspruchs wolle man Menschen erreichen und sie zum Nachdenken bringen.
Seit 2022 ermöglichte die Ausstellung über 15.000 Besucher*innen an 10 verschiedenen Standorten die Auseinandersetzung mit einem Teil der DDR-Geschichte, der vielerorts bereits in Vergessenheit geraten ist. Der Container soll in möglichst vielen Städten der Ost-Bundesländer die Geschichte wieder sichtbar machen. In Leipzig ist die Ausstellung noch bis zum 14. November zu sehen.
Aufgekommen war die Diskussion um die Gewalt in der DDR-Heimerziehung, nachdem in der BRD vor allem in kirchlichen Heimen mehrere Skandale aufgedeckt worden waren.
Aufwachsen mit Gewalt im Jugendwerkhof
Alexander Müller ist einer der Zeitzeug*innen. Mit elf Jahren wurde er gegen seinen Willen und den der Familie aus der Schule und der Familie genommen. Im Jugendwerkhof Burg musste er eine Lehre zum Schlosser beginnen. Nach Fluchtversuchen wurde er nach Torgau gebracht. Dort wurden Kinder festgehalten, die Staat und Partei als „schwer erziehbar“ einstuften.
Drill, Gewalt, harte Arbeit und auslaugender Sport (500 Liegestütze, 500 Hock-Streck-Sprünge, 500 Kniebeuge – es wurde so lang weitergemacht, bis alle es geschafft hatten) sollten die Jugendlichen in die Arbeitswelt eingliedern.
Es folgen Jahre der Unterbringung in unterschiedlichen Einrichtungen. Alexander Müller blieb bis zu seinem 18. Lebensjahr in der Jugendfürsorge der DDR. Nach einem Burn-out 2008 arbeitete er seine Geschichte Stück für Stück auf. Seit 2010 engagiert er sich als Zeitzeuge im Verein „Initiativgruppe geschlossener Jugendwerkhof Torgau“.
„Ich hatte darüber nachgedacht, was ich eigentlich einbringen könnte, was ich tun könnte“, so Müller bei der Eröffnungsveranstaltung. „Ich habe schon damals gesehen, wie es vielen anderen Leidensgenossen von mir geht. Denen geht es noch viel schlimmer als mir.“
Fehlende Rehabilitation und Entschädigung
„Wir hatten letztens ein (Ehemaliges-)Heimkinder-Treffen in Torgau. Wenn man sieht, wie viele von denen bis heute noch wehrlos und ratlos sind. Im Grunde sind sie um ihre Kindheit und ihre Jugend betrogen worden und jetzt werden sie noch um ihren Lebensabend betrogen“, so Müller.
Ehemalige Heimkinder des Jugendwerkhof Torgau werden seit 2004 ohne Einzelüberprüfung strafrechtlich rehabilitiert, das heißt, dass die damals erfolgte Einweisung zurückgenommen und als rechtsstaatswidrig erklärt wird. 2012 richteten Bund und Länder den Fonds Heimerziehung ein. Bis 2014 konnten ehemalige Heimkinder dort Entschädigungen von rund 10 000 Euro beantragen. Zudem steuert er Zahlungen zur Rente bei.
Alexander Müller kritisiert das System jedoch. Bei den Entschädigungszahlungen musste man angeben, was man sich von dem Geld kaufen möchte. Das sei eine erneute Entmündigung, „als ob man uns nicht zutrauen könnte, 10 000 Euro auszugeben.“ Die Rehabilitierung für ehemalige Heimkinder anderer Heime findet bisher nur in Ausnahmefällen statt.
„Die Leute haben schon genug gelitten in ihrem Leben. Es wäre mal an der Zeit, sie ordentlich, wie Menschen zu behandeln und ihnen zumindest einen gescheiten Lebensabend zu ermöglichen. Die meisten haben ja noch nicht einmal eine abgeschlossene Berufsausbildung. Wie soll da eine gute Rente zusammenkommen?“
Die Gesellschaft versucht zu vergessen
Hartnäckig hält sich auch heute das Gerücht, dass die Kinder und Teenager, die in die Heime kamen, zum großen Teil straffällig waren. Das stimmt jedoch nicht. Es reichte, als nicht angepasst zu gelten.
Als „schwer erziehbar“ wurden Kinder und Jugendliche deklariert und in Spezialkinderheime wie die Jugendwerkhöfe eingewiesen, weil sie beispielsweise häufig die Schule schwänzten, bei der Arbeit unzuverlässig waren, einer unangepassten Jugendszene wie den Punks angehörten, unerwünschte Musik hörten oder mehrfach aus anderen Kinderheimen weggelaufen waren.
Auch gesellschaftlich wird wenig über das Thema Heimerziehung in der DDR, das oft eng mit Psychiatrieunterbringung verbunden war und es auch heute in der BRD noch ist, gesprochen. In Plauen, Alexander Müllers Heimatstadt, schlugen ihm nach eigener Aussage, gerade als Mensch, der sich gegen rechts positioniert, Antipathie entgegen. Beim „Bautzen Forum“ bekam er konkrete Anfeindungen zu spüren, sagt er.
Mit seinem Engagement will Müller jedoch nicht aufhören: „Natürlich stören wir. Wir haben schon immer gestört. In guter alter Tradition machen wir da weiter, bis wir akzeptiert werden.“
Die Ausstellung „Blackbox Heimerziehung“ ist vom 18. Oktober bis zum 14. November montags bis samstags 10:00 bis 16:00 Uhr auf dem Nikolaikirchhof zu sehen.
Empfohlen auf LZ
So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:
Keine Kommentare bisher